Kann Nawalny Putin besiegen?: Warum der mächtige Kremlchef einen Mann fürchtet
Der Art, wie der russische Staatsapparat Alexej Nawalny und seine Leute verfolgt, haftet etwas Irrationales an. Das lässt tief blicken. Ein Gastbeitrag.
- Nina L. Chruschtschowa ist Professorin für internationale Angelegenheiten an der New School, New York. Ihr jüngst (gemeinsam mit Jeffrey Tayler) verfasstes Buch trägt den Titel „In Putin's Footsteps: Searching for the Soul of an Empire Across Russia's Eleven Time Zones“. Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt von Helga Klinger-Groier. Copyright: Project Syndicate, 2021. www.project-syndicate.org
Im vergangenen Jahrhundert gab es zwei Momente, in denen Russlands politische Regime demoliert wurden. Im Jahr 1917 wurde die taumelnde Monarchie des Landes durch die bolschewistische Revolution gestürzt. Und 1991 beschleunigte ein missglückter Putsch marxistisch-leninistischer Hardliner gegen den Reformisten Michail Gorbatschow den Zusammenbruch der strauchelnden Sowjetunion. Läutet die Protestwelle, die Russland derzeit erfasst hat, einen weiteren Regimewechsel ein?
Die heutige Protestbewegung verfügt im Gegensatz zu den Protesten, die Russland in den Jahren 2011/2012 als Reaktion auf Wladimir Putins dritte Amtseinführung als Präsident erschütterten, über einen charismatischen und wohlwollenden Anführer. Alexej Nawalny ist nicht nur ein unerschrockener Verfechter der Korruptionsbekämpfung. Als er Mitte Januar verhaftet wurde, war er gerade aus Deutschland zurückgekehrt, wo er sich nach seiner Vergiftung mit dem Lieblingsnervengift des Kremls, Nowitschok, monatelang erholt hatte – um Putins Regime weiterhin die Stirn zu bieten.
Doch anders als in den letzten Tagen des Zaren oder der Sowjetunion präsentiert sich Putins Regime weder taumelnd noch strauchelnd. Putin hat die vergangenen zehn Jahre damit verbracht, einen Polizeistaat zu festigen, und er ist bereit, jedes verfügbare Instrument einzusetzen, um an der Macht zu bleiben. Der Staatschef, der 2014 in die Ukraine einmarschierte und die Krim illegal annektierte, um seine sinkenden Beliebtheitswerte zu verbessern, und der im vergangenen Jahr eine Verfassungsänderung durchsetzte, damit er auf Lebenszeit Präsident bleiben kann, wird sich nicht von einer aus Wochenenddemonstranten bestehenden Bewegung von der Macht verdrängen lassen.
Dennoch haftet der Einschüchterung Nawalnys sowie seiner Mitarbeiter und Anhänger durch Putin etwas besonders Exzessives, ja Irrationales an. Die Polizei hat bereits Tausende Menschen (darunter auch Journalisten) festgenommen, wobei sie oft brutal vorging. Außerdem ließ die Regierung auch Social-Media-Plattformen sperren, weil diese angeblich die Unruhen schüren. Unterdessen senden die vom Kreml kontrollierten TV-Sender endlos heuchlerische Geschichten über Putin und mühen sich sehr, die Protestbewegung zu diskreditieren.
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Mit der effektiven Abriegelung des Moskauer Zentrums, unter anderem durch die Sperrung der Metro, behelligt die Regierung die Bürger und lässt es so aussehen, als sei alles Nawalnys Schuld. Die Regierung möchte „friedlichen Stadtbewohnern“ ermöglichen, ihre Wochenendeinkäufe zu erledigen, so das Narrativ, aber die „gesetzesfeindlichen“ Demonstranten beharren, ähnlich wie „Terroristen“, darauf, das „normale“ Leben zu stören.
Nach der Logik des Kremls beweisen ausländische Spitzenpolitiker, Journalisten und Diplomaten, die ihre Unterstützung für die russische Opposition äußern, lediglich, dass Nawalny Handlanger einer weltweiten Verschwörung zur Destabilisierung Russlands ist. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, wies das russische Außenministerium kürzlich drei europäische Diplomaten aus, weil sie an Kundgebungen für Nawalny teilgenommen hatten – und das, während Josep Borrell, der EU-Außenbeauftragte, in Moskau weilte.
Nawalny wird wie ein Staatsfeind behandelt
Der Kreml behandelt Nawalny entsprechend: nämlich wie einen Staatsfeind. Die absurden Gerichtsverhandlungen seit Nawalnys Rückkehr aus Deutschland erinnern an Stalins Schauprozesse in den 1930er Jahren, mit einem entscheidenden Unterschied: Nawalny kapituliert nicht vor dem Diktator, indem er seine „Verbrechen“ gesteht. Während des Verfahrens rügte Nawalny die staatliche Gesetzlosigkeit und prangerte seine Strafe – fast drei Jahre Strafkolonie – als unrechtmäßig an.
Überdies veröffentlichte Nawalny kürzlich ein Video, das viral ging. In dem wird Putin beschuldigt, in betrügerischer Absicht eingeheimste Gelder für den Bau eines milliardenteuren Palasts am Schwarzen Meer verwendet zu haben. Obwohl die Russen unter ihren Anführern mit Korruption rechnen, zeigt Nawalny das Ausmaß der durch Korruption erworbenen Reichtümer auf (ähnlich wie 2017, als es um den damaligen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew ging).
Die Sanktionen des Westens nerven Putins Verbündete
Nawalnys Angriffe schwächen also Putins Macht direkt. In diesem Sinne agiert Nawalny nicht wie eines von Stalins trotzkistischen Zielen; er ist Trotzki. Und deswegen muss er aus dem Verkehr gezogen werden.
Verstärkt werden Putins Ängste noch durch die Möglichkeit, dass gerade in Zeitlupe eine Palastrevolution im Gange sein könnte. Seit der Annexion der Krim würgen die Sanktionen des Westens die russische Wirtschaft ab und schüren den Unmut der politischen Eliten des Landes, die sich nach ihren Schweizer Konten und italienischen Villen sehnen. Sie könnten nun versuchen, Putin zu stürzen, ganz ähnlich wie Nikita Chruschtschow 1964 gestürzt wurde. Und ein gedemütigter Putin wäre vermutlich viel leichter zu stürzen als ein beliebter Putin.
Die Schamanen sind zurück
Ein weiterer Beweis dafür, dass Russlands verknöchertes Regime beginnt, sich selbst zu zerstören, ist, dass Mystiker und Bekehrer auf der Bildfläche erscheinen und Klarheit versprechen. Der selbst ernannte Heilige Grigori Rasputin half einst mit, die hinfällige zaristische Monarchie in den Boden zu stampfen. Und in den 1980er Jahren, als die Unreformierbarkeit des Sowjetimperiums zutage trat, waren TV-Psychiater groß in Mode.
Heute treten politische Schamanen aller Couleur – von kommunistisch bis nationalistisch – immer stärker in Erscheinung. Sie sagen Putins baldigen Tod voraus, warnen vor einer Übernahme des Landes durch den Westen oder China und spekulieren, dass Nawalny ein aus dem Ruder gelaufenes Projekt der russischen Sicherheitsdienste sei. Einige haben sogar Nawalnys Namen – der übersetzt „wegstoßen“ bedeutet – als Zeichen dafür interpretiert, dass er derjenige ist, der dem Putinismus ein Ende bereiten wird. Doch die Reaktion des Kremls auf die Proteste zeigt, dass Putin und der Staat ein und dasselbe sind. Das macht seinen Sturz zu einem besonders schwierigen Unterfangen – zumindest derzeit.
Nina L. Chruschtschowa