Großbritannien nach dem Votum: Warum der Brexit meine Schuld ist
Der Autor dieses Textes stand dem Gründer der EU-kritischen Ukip-Partei nahe und bereut es heute, nicht deutlichere Kritik an seinen Thesen geübt zu haben. Ein Kommentar.
Unglaube. Schock. Trauer. Der Brexit ist da. Niemand sah es kommen. Zumindest nicht in linksliberalen Kreisen. Seit Freitagmorgen ist alles anders im Land. Das Volk hat gesprochen, wenn auch mit knapper Mehrheit: Wir wollen raus aus der EU. Dann wird alles besser.
Denkste. Das Pfund rutscht ab, der Aktienmarkt bricht ein. Die ersten Banken melden, dass Tausende von Arbeitsplätzen in andere EU Länder verschoben werden. Schottland droht mit einem Austritt aus dem Vereinten Königreich. Und wer weiß, wie es im politischen Pulverfass Nordirland weitergehen wird, wenn die Grenze zur Republik Irland eines Tages geschlossen wird.
Vor allem die jungen Menschen, die landesweit mehrheitlich für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, sehen ihre berufliche Zukunft in Gefahr. Meine Kinder, alle über 20, sind fassungslos. Sie sind mit dem Europagedanken aufgewachsen. Doch die „graue Wählerschaft“ über 55, wie sie in England genannt wird, hat begeistert und überwältigend für den Brexit gestimmt. Die EU wird von vielen Älteren oft mit den ehemaligen Feindländern Deutschland und Frankreich gleichgesetzt.
Und dann ist da noch die Klassengesellschaft, die in England weiter gedeiht: Wer Geld habe, stimme für den Verbleib in der EU, wer arm ist, stimme dagegen – so steht es in den Zeitungen. Stichwort: Einwanderung. „Wir wollen unser Land zurück“, so heißt es gerade unter Langzeitarbeitslosen. Dabei waren es die tüchtigen jungen Ost-Europäer, die dem Land in den letzten 15 Jahren als neue Einwanderer zum wirtschaftlichen Aufschwung verhalfen.
Doch wie ist es zum Brexit gekommen? Ich hege den Verdacht, dass es alles meine Schuld ist.
Seit über 30 Jahren lebe ich in London. Als Journalist, Historiker und Filmemacher. Immer war die EU-Kontroverse mit dabei. In den 90er Jahren, als ich für die BBC Sendungen Panorama und Newsnight arbeitete, war der interne EU-Krieg der Konservativen stets aktuell. Als Margaret Thatcher über die EU stolperte, war ich mit der Kamera dabei. Mit dem konservativen Politiker Nicholas Ridley, einem Erzfeind der EU, zog unser BBC-Team durch Europa, um seine kontroversen Europa-Thesen kritisch zu testen. Doch die Freunde der EU und des Europagedankens setzten sich in der Konservativen Regierung stets durch.
Streit mit den Briten war keine Seltenheit
Die Hunde bellen, doch die Karawane zieht weiter, hieß es unter deutschen Politikern, wenn es in der EU mal wieder Streit gab und die Briten ihr Veto einlegten. Dass es 25 Jahre später zum Austritt kommen würde, hätte damals kaum einer erwartet. Dabei hätte alles vielleicht anders sein können, wenn ich mir bei der EU-Debatte nur größere Mühe gegeben hätte. Die Chance bestand. Als ich 1985 an der London School of Economics für meine Doktorarbeit recherchierte, hatte ich die Unterstützung meines brillanten Doktorvaters, dem schottischen Historiker Alan Sked. Sked ist Experte für die Neuere Geschichte Europas. Nur die EU lehnte er von Grund auf ab. EU sei ein „Super-Staat ohne demokratische Legitimierung.“ Wir einigten uns darauf, anderer Meinung zu sein. Er sei halt ein britischer Exzentriker, dachte ich mir. Falsch gedacht, wie sich bald herausstellen sollte.
Dabei hatte ich die Lösung des Problems parat. Kurz zuvor war bei einer Konferenz junger deutscher und britischer Professioneller in Berlin das Thema Europa besprochen worden. Das Problem der EU: mangelnde Demokratie, so einigten wir uns. Die Lösung: gebt dem europäischen Parlament mehr Macht. Leider konnte ich Alan Sked davon nicht überzeugen. Er blieb bei seinem Anti-EU-Kurs.
Denn Alan Sked war es, der in den 90er Jahren die Ukip, die United Kingdom Independence Party gründete. Jene Partei, die wenig später von Nigel Farage gekapert wurde. Der Geist des Brexit, außerhalb der konservativen Partei, war aus der Flasche. Sked ist längst nicht mehr dabei; er betrachtet Ukip als rassistisch. Doch auf ein Verlassen der EU drängte er weiter.
Hätte ich mir mal mehr Mühe gegeben. Oder bessere Argumente formuliert. Dann wäre Ukip vielleicht nie gegründet worden. Und dann gäbe es heute vielleicht auch keinen Brexit.
Noch ist Großbritannien nicht verloren
Ist für den Europa-Gedanken in England alles verloren? Nein. Vielen älteren Briten sitzt eine gewisse Verachtung der EU tief in den Knochen. Doch die jungen Menschen Englands sehen die Dinge anders. Viele reisen durch Europa, mit Bahn oder Billigfliegern, und akzeptieren die europäischen Einwanderer im eigenen Land.
Die unter Schock stehenden EU-Befürworter formieren sich. Es gibt den Ruf nach einem zweiten Referendum. Die Eurokraten sollten bei den bevorstehenden Verhandlungen das Wohlwollen der 48 Prozent EU-Befürworter im Land nicht aufs Spiel setzen. Solidarität ist geboten. Dass sich die EU reformieren muss, steht dabei außer Frage. Demokratiemangel? Gebt dem Europa-Parlament mehr Macht. Europa kann nur durch Demokratisierung gerettet werden. So wie das junge Deutsche und Briten schon vor 30 Jahren bei einer Konferenz in Berlin erkannten.
Tilman Remme ist Filmemacher und lebt in London. Nach einem Geschichts-Studium in Berlin promovierte er an der London School of Economics.
Tilman Remme