Brexit: Warten auf die Hinterbänkler
Den radikalen britischen Konservativen fehlen noch Stimmen, um Theresa May zu stürzen. Aber das kann sich rasch ändern.
Auf die Unterstützung des millionenfach gelesenen Boulevardblatts „Daily Mail“ konnten sich die harten EU-Feinde stets verlassen. Unermüdlich warb das Zentralorgan des reaktionären Kleinbürgers unter seinem Chefredakteur Paul Dacre für den Austritt Großbritanniens und, seit der Entscheidung im Juni 2016, für den härtestmöglichen Brexit. Seit Dacres Rückzug zugunsten des Liberalkonservativen George Grieg hat sich das Blatt gewendet.
Am Freitag nahm die Zeitung auf der Titelseite jene Konservativen ins Visier, die Premierministerin Theresa May per Misstrauensvotum stürzen wollen. „Haben diese eitlen Pfaue den Verstand verloren?“, lautete die Schlagzeile. Es fehlten nur die Fotos von Brexit-Ultras wie Jacob Rees-Mogg oder Steven Baker.
Um die angestrebte Abstimmung über ihre Parteivorsitzende herbeizuführen, müssen sich 15 Prozent der Tory-Unterhausfraktion, also 48 Hinterbänkler schriftlich beim Fraktionskollegen Graham Brady melden. Bis Freitagnachmittag schien das Quorum nicht zustande gekommen zu sein, britische Medien zählten 21 Putschisten.
Auch Rückhalt für die Regierungschefin
Gut möglich, dass Anfang kommender Woche abgestimmt wird, schließlich lassen sich weitere Abtrünnige in der 315 Menschen starken Fraktion rasch finden. Deutlich wurde am Freitag aber auch: Die hartnäckig um ihr Amt und den vorläufigen Austrittsvertrag kämpfende Regierungschefin genießt unter stilleren Fraktionsmitgliedern durchaus Rückhalt. Viele Mainstream-Konservative haben von den Umtrieben der nationalistischen Rechten die Nase voll. Drastisch drückte dies die EU-freundliche Abgeordnete Anna Soubry aus: Sie könne den „lügenhaften Unsinn“ des früheren Brexit-Ministers David Davis, eines der Haupt-Verschwörer gegen May, nicht mehr hören.
Dass Davis’ ehrgeiziger Nachfolger Dominic Raab nach knapp fünf Amtsmonaten am Donnerstag zurückgetreten war, hatte May in die Krise gestürzt. Zum Nachfolger wollte die Regierungschefin den früheren Brexit-Vormann und jetzigen Umweltminister Michael Gove bestellen. Doch dieser kam mit Bedingungen, strebte neue Verhandlungen mit Brüssel an, schlug sogar die Vertagung des geplanten EU-Gipfels am nächsten Sonntag vor. May lehnte das Ansinnen ebenso ab wie den Wunsch von Entwicklungshilfeministerin Penelope Mordaunt, sie solle für die im Dezember anstehende Parlamentsabstimmung die kollektive Regierungsdisziplin außer Kraft setzen.
Labour hat keinen Plan
Am Freitag verharrten beide Minister in ihren Ämtern, vielleicht ein Zeichen dafür, dass eine Gegenreaktion gegen die Extrempositionen der EU-Feinde Wirkung zeigt. Theresa May warb in Medieninterviews um ihr Verhandlungsergebnis. Hinter den Kulissen hat ihr Team damit begonnen, die Position von Labour-Hinterbänklern auszuloten. Die Parteispitze um den Vorsitzenden Jeremy Corbyn, einen eingefleischten EU-Skeptiker, und den Brexit-Sprecher und Europafreund Keir Starmer will das 585-Seiten-Dokument sowie die siebenseitige Erklärung zur zukünftigen Zusammenarbeit auf jeden Fall ablehnen. Die Arbeiterpartei spricht von einem „schlechten Deal“, der nicht annähernd die bisherigen Vorteile der EU bringe.
Doch was geschieht, wenn das Unterhaus im Advent - als Termin wird 10. Dezember genannt - die Vereinbarung der Regierung mit Brüssel tatsächlich ablehnt? Labour will dann Neuwahlen, notfalls auch eine zweite Volksabstimmung herbeiführen, wie sie der frühere Labour-Premier Tony Blair fordert. Doch sind beide Auswege ohne Regierungsunterstützung versperrt.
Premier May wiederholt gebetsmühlenartig: „Ein zweites Referendum wird es nicht geben.“ Stattdessen stünde die Möglichkeit eines Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung am Horizont. Dies bereitet vielen Labour-Abgeordneten Kopfzerbrechen. Im kleinen Kreis sprach beispielsweise die einflussreiche frühere Staatssekretärin Margaret Hodge von ihren Zweifeln. Hingegen scheint das kleine Häuflein von rund zehn Brexit-Befürwortern in der Labour-Fraktion die Haltung der Tory-Ultras zu teilen. Er selbst werde nicht für Mays Deal stimmen, betont EU-Feind Graham Stringer: „Und bisher habe ich niemanden gefunden, der dazu bereit wäre.“