Transatlantisches Verhältnis: Warnung vor einer Illusion
Die meisten deutschen Politiker hoffen auf einen Wahlsieg Joe Bidens. Aber würde die Beziehungen zu den USA dann wirklich einfacher? Eine Analyse.
Jenseits der AfD gibt es im Bundestag keine Fraktion, die sich am 3. November nicht dringend eine Abwahl von Donald Trump und einen Sieg von Joe Biden wünscht. Doch würde für die EU und für Deutschland mit einem Sieg des demokratischen Kandidaten alles wieder gut? Zumindest Matthew Karnitschnig, ein Kenner sowohl der USA als auch Deutschlands, hat darauf eine klare Antwort. Die Hoffnungen vieler in Berlin, wonach die transatlantischen Beziehungen unter Biden wieder irgendwie zu den alten Mustern zurückkehren würden, seien „nicht nur übertrieben, sondern reine Illusion“, schrieb der Deutschland-Korrespondent von „Politico“ kürzlich.
Nun gehört Karnitschnig zu den Journalisten, die den Deutschen ihre echten oder vermeintlichen Fehler gern mit einer gewissen Aggressivität vorhalten. Doch seiner These können auch deutsche Außenpolitik-Experten und Abgeordnete mit Kenntnis der USA viel abgewinnen. Die meisten von ihnen sind überzeugt: Bidens Umgang mit der EU und Deutschland wird viel geschmeidiger ausfallen als der Trumps – viele ernste Streitpunkte aber werden bleiben, obwohl Biden zunächst sehr viel Energie in die Lösung innenpolitischer Probleme und den Abbau sozialer Verwerfungen investieren dürfte.
"Die Bandagen werden härter sein"
Die Erwartung lautet deshalb, dass es anders, aber nicht einfacher werden wird, wenn der Demokrat ins Weiße Haus einzieht. Gerade weil Biden im Gegensatz zu Trump ein überzeugter Transatlantiker und Multilateralist ist, der den Einfluss seines Land durch internationale Zusammenarbeit stärken will, könnte er mehr europäische und deutsche Beiträge verlangen, denen sich die Adressaten nur schwer entziehen können. Sowohl in der Sicherheits- als auch in der Wirtschaftspolitik würden „die Bandagen zwischen der EU und den USA härter sein, als wir sie in den vergangenen Jahrzehnten gewohnt waren“, sagt Unionsfraktionsvize Johann Wadephul (CDU) voraus.
Im Rahmen der Nato werde der Demokrat von Berlin „mehr Cash, mehr Commitment“ fordern. Mit „mehr Cash“ sind höhere deutsche Verteidigungsausgaben gemeint. Trump hatte das Verfehlen des Zwei-Prozent-Ziels durch die Deutschen oft in erpresserischer Manier („sie schulden uns Milliarden“) gegeißelt. Doch schon unter seinem Vorgänger Barack Obama hatten die USA massiv Druck gemacht – und würden das unter Biden weiter tun. „Mehr Commitment“ bedeutet die Übernahme von mehr Verantwortung und eine Ausweitung deutscher militärischer Beiträge. Weil Biden bei militärischen Interventionen gerade in Europas Peripherie zurückhaltend bleiben dürfte, könnten dort mehr Aufgaben auf die EU und Deutschland zukommen.
Zum bestimmenden Thema seiner Außenpolitik hat der frühere Vizepräsident in einem Artikel in Foreign Affairs die Systemkonkurrenz zwischen Demokratien und Autokratien erklärt. Er will die Kooperation der Demokraten stärken, den Einfluss von Autokratien zurückzudrängen. China dürfte im Zentrum dieser Auseinandersetzung stehen, auch der Kurs der USA gegenüber Russland sich verschärfen. Biden hat zudem angekündigt, sowohl zum Pariser Klimaschutzabkommen zurückzukehren als auch zum Atomabkommen mit dem Iran.
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Auch wirtschaftspolitisch sollten die EU und Deutschland nicht darauf vertrauen, dass eine Abwahl Trumps jede Spannung im Verhältnis zu Washington beseitigt. Als „national-ökonomisch“ bezeichnen Beobachter die Wirtschaftsagenda des Herausforderers. „Ich glaube nicht, dass die Gefahr von Protektionismus gebannt ist in dem Moment, wo Biden gewählt ist“, sagt Wadephul – schließlich stehe der in schwierigen Zeiten massiv unter Druck, die eigene Wirtschaft voranzubringen. Aber Biden sei immerhin ein „dialogbereiter Partner“. Der CDU-Mann ist sich da einig mit Jürgen Trittin. Das Zurückziehen der USA auf sich selbst werde sich wohl unter einem Demokraten fortsetzen, sagte der Grüne kürzlich: „Es wird nur zivilisierter ausgetragen werden.“
Glaubt man dem US-Politikwissenschaftler Daniel S. Hamilton, werden die transatlantischen Beziehungen unter Biden völlig andere werden – wenn denn die EU den Willen und die Amerikaner die Geduld dazu aufbringen, das Neue zu wagen. „Im Erfolgsfall wird die Partnerschaft gleichberechtigter, globaler und effektiver sein“, schrieb Hamilton in der „Internationalen Politik“ und fügte hinzu: „Scheitert sie, sind Amerikas und Europas Sicherheit, Wohlstand und Demokratien in Gefahr.“
Hinweis: Die Wissenschaftler Konstantinos Tsetsos, Carlo Masala und Frank Sauer vom Metis Institut für Strategie und Vorausschau der Bundeswehruniversität München haben kürzlich eine Studie vorgelegt, die sehr übersichtlich, umfassend und plausibel die Auswirkungen einer Wahl Bidens für das transatlantische Verhältnis analysiert: "Biden/Harris 2020. Eine Vorausschau auf die sicherheitspolitischen Konsequenzen".