Umstrittene Wahl in Belarus: Wahlkommission erklärt Lukaschenko zum Sieger
Mehr als 80 Prozent der Belarussen sollen für den amtierenden Präsidenten gestimmt haben. Bei Demonstrationen gegen Wahlfälschung kommt es zu Gewalt.
Amtsinhaber Alexander Lukaschenko hat die Präsidentschaftswahl in der autoritär regierten Ex-Sowjetrepublik Belarus nach Angaben der Wahlkommission mit 80,23 Prozent gewonnen. Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja komme auf 9,9 Prozent, teilte die Kommission am Montagmorgen mit. Lukaschenko regiert das Land seit 1994 autoritär. Sie kündigte bereits an, eine Niederlage nicht anzuerkennen.
Stattdessen hat sie sich selbst am Montag zur Wahlsiegerin erklärt und Lukaschenko zum politischen Rückzug aufgefordert. Die Regierung müsse darüber nachdenken, „wie sie die Macht friedlich an uns übergeben kann", sagte Tichanowskaja am Montag vor Journalisten in Minsk. „Ich betrachte mich selbst als die Gewinnerin dieser Wahl."
In der Nacht zum Montag demonstrierten landesweit Zehntausende Menschen gegen Wahlfälschung. Es kam zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei. Bürgerrechtlern zufolge wurde ein Mensch getötet. Das Todesopfer sei von einem Gefangenentransporter der Polizei umgefahren worden, teilte die Aktivistengruppe Spring 96 am Montag mit. Das Innenministerium wies die Angaben der Aktivisten zu dem Todesfall jedoch zurück. "Wir haben keinen Toten", sagte eine Sprecherin.
Die Lage sei unter Kontrolle, teilten die Behörden staatlichen Medien zufolge mit. In vielen Städten gab es Proteste. Die Polizei ging brutal gegen friedliche Demonstranten vor. In der Hauptstadt Minsk setzten die Sicherheitskräfte Wasserwerfer, Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Solche Proteste hat die Ex-Sowjetrepublik noch nie erlebt. Die Menschen zeigten sich wenig beeindruckt vom Machtapparat.
Wie viele Menschen festgenommen wurden, teilte die Polizei zunächst nicht mit. Die Menschenrechtsorganisation Viasna sprach in der Nacht von zunächst mehr als 150 Festnahmen allein Minsk. Landesweit sollen es 300 gewesen sein, sagte der Viasna-Vertreter Sergej Sys. Diese Zahl dürfte weiter steigen.
Auch Journalisten waren unter den Festgenommenen. Darunter ein dreiköpfiges Reporterteam des unabhängigen russischen TV-Sender Dozhd. Sie wurden auf der Straße von zehn Männern in Zivil überwältigt, zu Boden gedrückt und anschließend abgeführt. Über die Identität der Männer ist bisher nichts bekannt. Auch der Journalist Maxim Solopow der unabhängigen russischen Medienplattform Meduza sowie zwei Reporter des russischen Mediums Daily Storm wurden am Sonntag inhaftiert. Sicherheitskräfte sollen die Journalisten während der Festnahme mit Schlagstöcken verprügelt haben.
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Nach Angaben von Beobachtern sollen sich in der Hauptstadt bis zu 100.000 Menschen an den Demonstrationen beteiligt haben. Auf Videos war etwa zu sehen, wie Demonstranten aus Müllcontainern Barrikaden errichteten. Menschenmassen zogen durch die Straßen - auch in anderen Städten des Landes. In sozialen Netzwerken wurden immer wieder Szenen veröffentlicht, wie Polizisten brutal auf Menschen einprügelten.
Der Menschenrechtsorganisation Viasna zufolge mussten einige verletzte Demonstranten ins Krankenhaus eingeliefert werden, nachdem sie von Blendgranaten getroffen wurden.
Aber auch Demonstranten attackierten Polizisten, um Festnahmen zu verhindern. Einige bewarfen die Einsatzkräfte mit Flaschen und Steinen. Es gab viele Bilder von blutüberströmten Menschen. Wie viele Bürger verletzt wurden, war zunächst nicht bekannt.
In einzelnen Orten kam es auch zu ersten Siegesfeiern für die Oppositionskandidatin. Die Menschen riefen die Uniformierten auf, sich dem Wählerwillen zu beugen und dem Volk anzuschließen. In einzelnen Ortschaften habe die Polizei kaum Widerstand leisten können gegen die Menschenmengen, berichteten oppositionsnahe Portale im Internet, das landesweit zeitweise nicht funktionierte.
Aufrufe zum Gewaltverzicht aus dem Ausland
EU-Ratspräsident Charles Michel hat das aggressive Einschreiten der Sicherheitskräfte scharf verurteilt. „Die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die grundlegenden Menschenrechte müssen gewahrt werden“, forderte der Belgier am Montag. „Gewalt gegen Demonstranten ist nicht die Antwort.“
Polen und Litauen riefen währenddessen die autoritäre Führung in Minsk zum Gewaltverzicht auf. In einer gemeinsamen Erklärung schreiben die beiden Staatsoberhäupter Andrzej Duda und Gitanas Nauseda: „Wir fordern die belarussischen Behörden auf, grundlegende demokratische Standards uneingeschränkt anzuerkennen und aufrechtzuerhalten“. Es gelte, Grundfreiheiten, Menschen- und Bürgerrechte einschließlich der Rechte nationaler Minderheiten und der Meinungsfreiheit zu respektieren.
„Wir glauben, dass der Dialog immer die beste Methode ist, um die soziale Entwicklung voranzutreiben, Reformen und Strategien zu diskutieren“, schrieben die Präsidenten der beiden EU-Länder weiter. „Wir sind davon überzeugt, dass eine engere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union im Interesse von Belarus liegt. Wir möchten, dass die Türen für diese Zusammenarbeit offen bleiben.“
Litauens Außenminister Linas Linkevicius bezeichnete die Maßnahmen der belarussischen Behörden auf Twitter als „absolut unvorstellbar“.
Die Wahl war von massiven Manipulationsvorwürfen überschattet. Viele der rund 6,8 Millionen Wahlberechtigten konnten wegen des großen Andrangs bis 19.00 Uhr MESZ ihre Stimme nicht mehr abgeben. Wahlleiterin Lilija Jermoschina sagte am Abend, dass die Anzahl der Stimmzettel nicht ausreichte. Niemand habe mit so einer hohen Beteiligung gerechnet, betonte sie. In einigen Wahllokalen in Minsk konnten die Menschen wegen des großen Andrangs auch nach der offiziellen Schließung ihre Stimme noch abgeben.
Am Montag veröffentlichten einige Wahlkommissionen die tatsächlichen Wahlergebnisse aus ihren Lokalen, wie etwa das 70. Wahllokal in Minsk. Der Hochrechnung zufolge, die vom belarussischen Newsportal „Nexta“ verbreitet wurden, haben lediglich 255 Menschen in dem Wahllokal für Lukaschenko gestimmt, 1989 hingegen für Tichanowskaja.
Der deutsche Unions-Fraktionsvize Johann Wadephul hat die Regierung von Belarus ebenfalls zum Gewaltverzicht gegen die eigene Bevölkerung und Transparenz über das Wahlergebnis der Präsidentschaftswahl aufgerufen. „Nach allen Informationen, die wir von Freunden, Beobachtern und Bloggern aus dem Land erhalten, hat die Oppositionskandidatin Tichanowskaja einen hohen Stimmanteil erreicht. Vieles spricht dafür, dass sie eine Mehrheit erreicht hat", sagte der CDU-Außenpolitiker am Montag in Berlin.
Gratulation von Putin und Xi
Trotz der massiven Manipulationsvorwürfe haben Kremlchef Wladimir Putin und Chinas Präsident Xi Jinping als erste Staatschefs ihrem Kollegen Alexander Lukaschenko zum vermeintlichen Wahlsieg gratuliert. Die Beziehungen zwischen den beiden benachbarten „Brüdervölkern“ sollten gestärkt werden, schrieb Putin nach Kreml-Angaben am Montag in einem Glückwunschtelegramm.
Auch Xi betonte, dass er die Entwicklung zwischen China und Belarus sehr schätze. China und Russland können als ständige Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dort jederzeit ein Veto bei Entscheidungen einlegen.
Xi wolle mit Präsident Lukaschenko zusammenarbeiten, um gemeinsam die umfassende strategische Partnerschaft beider Länder voranzutreiben, berichtete Chinas staatliche Nachrichtenagentur Xinhua. Auch der Präsident von Kasachstan, Kassym-Schomart Tokajew, gratulierte Lukaschenko.
Internetprobleme, Gewalt, Fälschungsvorwürfe
Am Tag der Wahlen gab es offenbar massive Internetprobleme. Viele regierungskritische Portale waren nicht mehr aufrufbar. Selbst Korrespondenten russischer Staatsmedien beklagten, dass nichts mehr funktioniere.
„Es funktioniert kein YouTube, kein Skype, keine Mail und keine Messenger“, schrieb die Chefredakteurin des russischen Auslandsfernsehsenders RT, Margarita Simonjan, bei Telegram. Der Nachrichtenkanal funktioniere noch mit Einschränkungen. Videos und Fotos könnten nicht mehr hochgeladen werden. Ähnliches berichteten auch viele andere Nutzerinnen und Nutzer.
Die Opposition warnte bereits seit Tagen vor einer Abschaltung des Internets und verbreitete Anleitungen, wie Bürgerinnen und Bürger sich im Fall von Netzsperren verhalten sollten. Es gab zum Beispiel einen Aufruf zur friedlichen Demonstration gegen Wahlfälschungen, mit Uhrzeiten und Ortschaften bis hin zu Hinweisen für passendes Schuhwerk und ausreichende Verpflegung.hat im Schatten zahlreicher Festnahmen die Präsidentenwahl begonnen.
Den Protest wollen die Regierungsbehörden um jeden Preis verhindern. Vor der Wahl wurden bereits Hunderte Aktivistinnen und Demonstranten festgenommen. In dem Land zwischen Polen und Russland können rund 6,8 Millionen Menschen seit Sonntagmorgen um 7.00 Uhr MESZ in den knapp 5800 Wahllokalen im ganzen Land abstimmen. Mit ersten Prognosen wird nach der Schließung der letzten Wahllokale um 19.00 Uhr MESZ gerechnet.
Wahlleiterin Lilija Jermoschina erklärte die Präsidentenwahl bereits gegen Mittag für gültig, nachdem die Mindestbeteiligung von 50 Prozent erreicht war. Gegen 16.00 Uhr (15.00 Uhr MESZ) wurde sie mit mehr als 73 Prozent angeben.
„Belarus hat noch nie einen solchen Zulauf an den Wahlurnen gesehen. Das ist Ausdruck für den starken Wunsch nach Veränderung“, sagte die Politologin Maryna Rakhlei der Deutschen Presse-Agentur. Es seien auch viele 40- bis 50-Jährige unter den Wählern gewesen, die erstmals überhaupt abgestimmt hätten. Rakhlei wertete das als Zeichen gegen Lukaschenko.
Für den seit 26 Jahren amtierenden Staatschef Alexander Lukaschenko sah es kurzzeitig so aus, als könne ihm die Wahl gefährlich werden: Die Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja entwickelte sich nämlich in den vergangenen Wochen zur Hoffnungsträgerin für Lukaschenko-Gegner. Es gab noch drei weitere Kandidaten.
Lukaschenko gilt in dem Land, in dem noch die Todesstrafe vollstreckt wird, als „letzten Diktator Europas“. Er hatte damit gedroht, notfalls die Armee einzusetzen. In sozialen Netzwerken waren Fotos zu sehen von Militärfahrzeugen an den Zufahrten zur Hauptstadt Minsk.
Auch im Ausland, an der belarussischen Botschaft in Moskau, bildeten sich lange Schlangen. Internationale Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind diesmal nicht im Einsatz. Sie hatten noch nie eine Wahl in dem wirtschaftlich von Russland abhängigen Land als demokratisch anerkannt. Die OSZE hatte ihre Abwesenheit mit einer fehlenden Einladung begründet. Wegen der Corona-Pandemie gab es zudem massive Reisebeschränkungen, auch für internationale Journalisten.
Tichanowskajas Bewegung „Ein Land zum Leben“ veröffentlichte Augenzeugenberichte über Wahlfälschungen. „Ich will, dass die Wahl ehrlich verläuft“, sagte sie bei der Stimmabgabe in Minsk. Die 37-Jährige kandidierte an Stelle ihres inhaftierten Ehemanns Sergej Tichanowski, einem bekannten Videoblogger. (dpa, AFP, mlk)