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Sie will die neue Präsidentin Weißrusslands werden.
© Sergei Grits/AP/dpa

Präsidentschaftswahlen in Belarus: Das ist die Hausfrau, die den Weißrussen die Angst nimmt

Swetlana Tichanowskaja fordert am heutigen Sonntag Diktator Lukaschenko heraus. Dabei wollte sie anfangs gar nicht kandidieren, sondern bloß Koteletts braten.

Swetlana Tichanowskaja reist durch Weißrussland und macht Wahlkampf, als sei das ganz normal in ihrem Land. Meist kommen Tausende, manchmal sogar Zehntausende zu den Veranstaltungen der 37-Jährigen, die den autokratischen Präsidenten Alexander Lukaschenko bei der Präsidentenwahl am heutigen Sonntag aus dem Amt jagen will.

Knapp sieben Millionen Menschen sind aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Die Ex-Sowjetrepublik Belarus liegt traditionell im Spannungsfeld zwischen dem Westen und Russland. Das osteuropäische Land, das noch die Todesstrafe vollstreckt, gilt als letzte Diktatur Europas.

Eigentlich will sich Lukaschenko nach 26 Jahren an der Macht für eine sechste Amtszeit bestätigen lassen. Doch mit Tichanowskaja hat die Opposition unerwartet Aufwind bekommen.

Insgesamt stehen mit Lukaschenko fünf Kandidaten zur Auswahl. In den vergangenen Wochen sorgte vor allem Tichanowskaja für internationale Schlagzeilen.

Tichanowskajas zentrales Thema: die Angst

Tichanowskajas Auftritte werden oft als Livestream in den sozialen Netzwerken übertragen. Die Kandidatin steht selbstbewusst auf den Bühnen. Doch zugleich wirkt sie, als könne sie nicht glauben, was da vor sich geht.

Jedes Mal bedankt sie sich, dass die Menschen sich Zeit nehmen, ihr zuzuhören. Dabei geht es gar nicht um die Zeit, sondern um den Mut, den diese Weißrussen aufbringen: Wie die Kandidatin selbst fordern ihre Sympathisanten einen Diktator heraus.

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Die Angst und ihre Überwindung sind die zentralen Themen ihrer Kampagne. Auch ihre eigene Angst. Der Mann Sergej, ein bekannter Blogger, sitzt als politischer Gefangener in Untersuchungshaft. Die Kinder, vier und zehn Jahre alt, hat Tichanowskaja zusammen mit der Großmutter in Litauen in Sicherheit gebracht.

 Swetlana Tichanowskaja, Kandidatin bei der Präsidentenwahl in Belarus, begrüßt ihre Unterstützer bei einer Kundgebung.
Swetlana Tichanowskaja, Kandidatin bei der Präsidentenwahl in Belarus, begrüßt ihre Unterstützer bei einer Kundgebung.
© Sergei Grits/ dpa

In den Wochen vor der Wahl wurden immer wieder Proteste aufgelöst und Hunderte Aktivisten und Demonstranten festgenommen. Am Samstag, als einen Tag vor der Wahl, wurde auch Tichanowskajas Wahlkampfleiterin Maria Moros, auf offener Straße festgenommen.

Newcomerin in der Politik

Noch vor kurzem hatte Tichanowskaja mit Politik nichts zu tun. Sie hatte Sprachen studiert, Englisch und Deutsch. Danach arbeitete sie im heimatlichen Gomel unter anderem für eine irische Umwelt-NGO. In den letzten beiden Jahren war sie bei den Kindern zu Hause. Politik, in Opposition zu Lukaschenko, machte der Mann.

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Viele glauben, Lukaschenko habe Tichanowskaja zur Wahl zugelassen, weil er meinte, im Land seien die anachronistischen Rollenbilder noch intakt. Eine Frau als Präsidentin, das lag außerhalb seiner Vorstellungskraft.

Schließlich bediente Tichanowskaja anfangs dieses Klischee sogar selbst. Sie erklärte, wolle gar nicht Präsidentin werden, sie kandidiere nur für ihren Mann, lieber würde sie zu den Kindern zurück und Koteletts für sie braten.

Zwei politische Ziele

Doch in kürzester Zeit erlangte diese Frau ohne ein politisches Programm phänomenale Popularität. Ihre Reden gegen Lukaschenko wurden immer schärfer, ohne dass sie sich als Retterin der Nation inszenierte.

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) solidarisierte sich vor der Wahl mit Tichanowskaja. Unterstützt wird die Belarussin von der Ehefrau des nicht zugelassenen Präsidentschaftskandidaten Waleri Zepkalo, der nach Russland geflüchtet ist. Und Maria Kolesnikowa, die am Samstagabend nach russischen Medienberichten „irrtümlich“ für kurze Zeit festgesetzt wurde, leitete den Wahlkampfstab des ebenfalls nicht zugelassenen Bewerbers Viktor Babariko, der auch im Gefängnis sitzt.

Diese Zusammenarbeit zeige, „wie ein kooperativer, kreativer und feministischer Einsatz für die Demokratie gehen kann“, schrieb Roth in einem Gastbeitrag für die „Bild am Sonntag“. „In diesen Zeiten, da männliche Antidemokraten und Rechtsstaatsverächter rund um den Globus versuchen zu verteidigen, was ihnen nie gehört hat, sind die drei Belarussinnen eine mächtige feministische und demokratische Kampfansage - mit Herz, Faust und Victory-Zeichen!“

Nach einem Wahlsieg, erklärt Tichanowskaja, habe sie nur zwei Ziele: die Freilassung aller politischen Gefangenen und faire, freie Wahlen nach einem halben Jahr. Die Zweifel sind groß, dass dies in Weißrussland möglich ist.

Doch eins hat Tichanowskaja bereits erreicht: „Je weiter ich gehe, desto kleiner wird die Angst“, sagt sie. Sie meint nicht nur ihre eigene Angst.

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