Wie die SPD wieder erfolgreich wurde: „Wahlkampf ist Diktatur auf Zeit“
Noch im Sommer stand die SPD bei 15 Prozent. Woher kommt die neue Stärke und wie wird sie die Partei verändern? In Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder.
Wolfgang Schroeder ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel und Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Er ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Progressiven Zentrums.
Herr Professor Schroeder, wie haben Sie bei der Ausrufung von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten der SPD im Sommer 2020 dessen Chancen eingeschätzt?
Ich war damals nicht pessimistisch im Hinblick auf seine Chancen. Die SPD hatte Lehren gezogen aus dem Debakel bei den Bundestagswahlen 2013 und 2017. Beides Mal war der Kanzlerkandidat zu spät gekürt worden, und das führte zu einem Tohuwabohu in der strategischen Anlage des Wahlkampfes und zu Kommunikationspannen und Abstimmungsschwächen zwischen dem Kandidaten und dem Willy-Brandt-Haus. Diesmal wurde Olaf Scholz früh als Kandidat aufgestellt und konnte damit eine Strategie entwickeln, die auf die unterschiedlichen Akteure in der SPD Rücksicht nahm. Damit hatte er einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Union und Grünen.
Noch vor wenigen Wochen meinten Sie, es gebe zwei sozialdemokratische Parteien, die eine verkörpert von den Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, die andere von Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Wie unterschieden die sich?
Es gibt in der SPD klassischerweise eine Regierungs- und eine Bewegungsorientierung. Die Regierungs-SPD denkt stark im Kontext von Kompromissen, die zur Durchsetzung sozialdemokratischer Vorhaben nötig sind. Die Bewegungs-SPD versucht, die Ziele der Partei unverwässert hochzuhalten, die eigene Programmatik zu schärfen und Gruppen direkt anzusprechen, die sie für benachteiligt hält, wie zum Beispiel migrantische oder kulturelle Minderheiten. Dabei kann das große Ganze und die Durchsetzungsfähigkeit schon einmal aus dem Auge fallen.
Im Mitgliederentscheid über den Parteivorsitz gewann Ende 2019 nicht die Regierungs-SPD mit Olaf Scholz und Klara Geywitz, sondern die Bewegungs-SPD mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans …
Das stimmt. Aber danach ist es in der SPD zu einer strategischen Allianz der beiden Richtungen gekommen. Um die Wählerinnen und Wähler zu überzeugen, haben die Regierungs- und die Bewegungs-SPD eng zusammengearbeitet. Die Partei fand zu einer Geschlossenheit, die ursprünglich nicht erwartbar war. Dass der unterlegene Kandidat von 2019 zum Kanzlerkandidaten ausgerufen wurde, hat die SPD gestärkt. Wenn Sie vergleichen, stellen Sie fest: In keiner anderen Partei ist die Unterstützung für den eigenen Spitzenkandidaten größer als in der SPD. Und das imponiert auch den Wählern.
Hat Scholz neben den Strukturen der offiziellen Parteispitze die Führung seiner Partei übernommen?
Lassen Sie es mich so sagen: Wahlkampf ist immer Diktatur auf Zeit. Wer es im Wahlkampf nicht vermag, die Ansprüche des Parteiapparats und der Bewegungs-SPD wenigstens teilweise einzudämmen, der hat keine Chancen, Kanzler zu werden und die Regierungsgeschäfte im Sinne der Gesamtpartei zu organisieren. Olaf Scholz hat diese Rolle klug ausgefüllt. Er hat nicht wie Peer Steinbrück lautstark Beinfreiheit eingefordert, sondern seine eigene, persönliche Linie gleichsam nur in homöopathischen Dosen deutlich gemacht, etwa wenn er Abschiebungen von Straftätern nach Afghanistan befürwortete, sich vom Negative-Campaigning-Video der eigenen Kampagne distanzierte und weitgehend fair mit dem Konkurrenten von der Union umging. Das hat die SPD alles ohne Murren akzeptiert, da war Ruhe im Karton.
Der linke Parteiflügel hat Scholz machen lassen, als die Umfragen nach oben gingen. Wird er nach dem Wahltag nun einen Preis einfordern?
Das erwarte ich nicht. Denn Olaf Scholz hat ja die Positionen des linken Parteiflügels von vornherein in seine Kampagne integriert, etwa den Mindestlohn von 12 Euro, sichere Renten, die Vermögenssteuer und die Bereitschaft, im Interesse einer besseren Zukunft Schulden aufzunehmen. Es gibt ja kaum mehr eine Position des linken SPD-Parteiflügels, die Olaf Scholz nicht zu eigen gemacht hat. Die Corona-Pandemie hat die Regierungs- und Bewegungs-SPD vereint. Dass Olaf Scholz als Finanzminister so viel Geld auszugeben bereit war, hat die Parteilinke mit ihm versöhnt. Er vereint nun als Zentrist alle Positionen der SPD und ist damit gleichsam der wichtigste politische Corona-Gewinner.
Warum kam das auch außerhalb der SPD besser an als in vergangenen Wahlkämpfen?
Das Politbarometer hat vor rund zehn Tagen gefragt, was ausschlaggebend für die Wahlentscheidung sei. Eine Mehrheit von 53 Prozent nannte das Thema soziale Gerechtigkeit, deutlich vor dem Thema Klimawandel. Das spielt der SPD auch in die Karten. Die Geschlossenheit der Partei hat dazu beigetragen, dass diese Botschaft auch glaubwürdig war.
Wie entscheidend war es, dass die SPD diesmal in den neuen Ländern besser abgeschnitten hat als in den Wahlen zuvor?
Die Trias vom pragmatischen, lösungsorientierten und undogmatischen Politikstil Scholzens, Schwesigs und Giffeys kommt dort besonders gut an. Die Leute fühlen sich mit ihren Hoffnungen und Ängsten aufgehoben, ohne vorhandene oder neue Ressentiments zu aktivieren.
Apropos Erfolg von Giffey, Schwesig und Scholz. Sollte die ganze SPD daraus Konsequenzen für ihren Kurs ziehen, eine linke Sozial- und Steuerpolitik kombinieren mit harten Ansagen bei der inneren Sicherheit und einer Absage an die Identitätspolitik?
Ich würde das nicht auf diese Politikfelder zuspitzen. Auf jeden Fall sind die Wahlerfolge von Franziska Giffey und Manuela Schwesig eine Ermutigung für das, was die SPD jetzt auch im Bund machen kann: Jetzt können sich die innerparteilichen Kräfteverhältnisse wieder zugunsten einer pragmatischen- regierungsorientierten SPD verändern. Bei allen Herausforderungen der nächsten Monate, ich denke an die großen Transformationsprozesse, die Beschränkungen des Haushalts und die Bedrohung durch den Populismus, könnte das eine Erfolgsformel sein, die es der SPD ermöglicht, den politischen Prozess in Deutschland wesentlich zu prägen.
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Müssen Wissenschaft und Publizistik die These vom gleichsam unaufhaltsamen Niedergang der Sozialdemokratie in Europa korrigieren?
Ich habe diese These nie vertreten. Ich habe allerdings immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ausdifferenzierung des linken Lagers und die Erosion der Milieus es der Sozialdemokratie schwerer machte, Führungspersönlichkeiten zu finden, die den Spagat zwischen den unterschiedlichen Positionen meistern konnten. Dies könnte Olaf Scholz, Franziska Giffey, Manuela Schwesig und auch Arbeitsminister Hubertus Heil auch künftig gelingen. Denn sie haben nach dem Umbruch an der Spitze der SPD im Jahr 2019 bewiesen, dass sie alle vier kompromiss-, integrations- und handlungsfähig sind und die SPD nach vorne bringen können.