Migration: Waghalsige Flucht über den Ärmelkanal
Seit Weihnachten haben rund 100 Migranten per Schlauchboot Großbritannien erreicht. Aber ist das gleich eine neue Flüchtlingskrise?
Aufgeschreckt von empörten Schlagzeilen über eine vermeintliche neue Flüchtlingskrise hat der britische Innenminister Sajid Javid seinen Weihnachtsurlaub abgebrochen. Am Wochenende telefonierte er mit seinem französischen Kollegen Christophe Castaner, der ihm Zusammenarbeit „im Kampf gegen Ärmelkanal-Überquerungen“ zusagte.
Wie das Innenministerium in London am Sonntag mitteilte, wollen beide Länder in den kommenden Wochen ihre Patrouillen in der Meerenge verstärken. Außerdem wollen sie verstärkt gegen Schleuser vorgehen und eindringlicher vor den Gefahren einer Überfahrt der stark befahrenen Schifffahrtsstraße in kleinen Booten warnen.
Das Vereinigte Königreich und Frankreich werden auf ihren gemeinsamen Anstrengungen im Kampf gegen illegale Migration aufbauen, um unsere Grenzen und Menschenleben zu schützen", erklärte Javid.
Am Sonntagmorgen landeten sechs Männer am Strand von Kingsdown, wenige Kilometer nordöstlich der Hafenstadt Dover, und ließen sich widerstandslos vom Grenzschutz festnehmen. Die Iraner wurden medizinisch betreut und in ein Aufnahmezentrum für Asylbewerber gebracht. Nach Behördenangaben haben seit Heiligabend knapp 100 Menschen, darunter Minderjährige und Kinder, mit Schlauchbooten die Meerenge von Dover überwunden. Bei den meisten handelt es sich um syrische oder iranische Staatsangehörige; dem Flüchtlingsrat der Anrainer-Grafschaft Kent zufolge sind darunter viele Kurden.
In den vergangenen zwei Monaten haben nach Zählung der BBC mehr als 220 Flüchtlinge die Überfahrt versucht. Der Ärmelkanal ist an seiner engsten Stelle zwischen Calais und Dover lediglich 34 Kilometer breit. Er zählt zu den meistbefahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt, täglich sind dort 400 bis 500 Schiffe unterwegs, die Fähren zwischen England und Frankreich nicht eingerechnet. Erfahrene Seeleute vergleichen die Überfahrt von Frankreich nach England mit der Überquerung einer achtspurigen Autobahn zur Hauptverkehrszeit mit einem Supermarkt-Einkaufswagen.
Die im europäischen Vergleich sehr geringen Flüchtlingszahlen nutzt die ohnehin stets zu Hysterie neigende Londoner Boulevardpresse in der nachrichtenarmen Nachweihnachtszeit zu reißerischen Schlagzeilen. Vom „Migrantenchaos“ schrieb der „Sunday Telegraph“. „Beschlagnahmt die Boote in Calais“ forderte „Mail on Sunday“, gestützt auf Äußerungen der konservativen Abgeordneten Anne-Marie Trevelyan, die im Unterhaus den mehr als 500 Kilometer weit entfernt liegenden Wahlkreis Berwick-upon-Tweed vertritt.
Die Zusammenarbeit mit Frankreich steht immer wieder im Mittelpunkt der britischen Flüchtlingspolitik. Bei der jüngsten britisch-französischen Regierungskonsultation im Januar hatte Premierministerin Theresa May dem Nachbarland einen Beitrag von 44,5 Millionen Pfund (49,4 Millionen Euro) für die Grenzsicherung im nordfranzösischen Hafen Calais zugesagt. Dort versammeln sich immer wieder Tausende von Flüchtlingen, um zu versuchen, nach Großbritannien zu kommen. Mit dem Geld wurden vor allem die Zufahrten zum Kanaltunnel mit kilometerlangen, meterhohen Zäunen versehen, um den Zugang zu britischen Lastwagen zu erschweren.
Genau diese Maßnahmen würden die Migranten jetzt zu ihren waghalsigen Seereisen verleiten, sagt Bridget Chapman vom Flüchtlingsrat Kent. „Ich habe Bilder von Leuten ohne Rettungswesten gesehen, das ist schrecklich.“ Die organisierten Schmugglerbanden, häufig geleitet von britischen Staatsbürgern, verdienen an der letzten Etappe bis zu fünfstellige Summen.
Großbritannien bleibt für viele das Traumziel
Viele Flüchtlinge sind bereits seit Monaten unterwegs, wollen aber nicht in Frankreich Asyl beantragen. Die Insel bleibt ihr Traumziel: Zum einen sprechen die meisten – mal besser, mal schlechter – Englisch, zum anderen bieten bereits existierende ethnische Minderheiten, besonders in der Vielvölkerstadt London, Schutz und Zugang zu Jobs, wobei es sich fast immer um Schwarzarbeit handelt. Eine Rückkehr in die Heimat lehnen sie ab. „Ich würde lieber auf See sterben als in den Iran zurückzukehren“, sagte ein Migrant dem Reporter der „Sunday Times“.
Offenbar heizen Menschenschmuggler die Situation vor Ort noch dadurch an, dass sie die Migranten vor den Folgen eines Brexit warnen: Wenn Großbritannien aus der EU ausscheide, werde die Überfahrt noch schwieriger.
Innenminister Javid erklärte die Situation an der Ärmelkanal-Küste zu einem „ernsten Zwischenfall“, sieht aber keine kurzfristigen Lösungsmöglichkeiten. Die von konservativen Fraktionskollegen geforderten zusätzlichen Boote für den Grenzschutz könnten eine Sogwirkung zur Folge haben, glaubt der Minister, der selbst Sohn pakistanischer Einwanderer ist.
Kirchenvertreter warnt vor Hysterie
Javids Staatssekretärin Caroline Nokes ließ sich am Samstag medienwirksam in einer gelben Rettungsweste am Hafen von Dover filmen. Dass dabei ein Boot der Grenzwache hinter ihr im Kreis fuhr, gab der Debatte eine humoristische Note.
Während die oppositionelle Labour-Party Javids Vorgehen als verfehlt anprangerte, warnten Kirchenvertreter vor Hysterie. Es gehe um Menschen, mahnte der Bischof von Dover, Trevor Willmott: „Wir sollten nicht vergessen, dass jeder Mensch kostbar ist.“ Das Vereinigte Königreich und Frankreich werden auf ihren gemeinsamen Anstrengungen im Kampf gegen illegale Migration aufbauen, um unsere Grenzen und Menschenleben zu schützen", erklärte der britische Innenminister Sajid Javid nach einem Telefonat mit seinem französischen Kollegen Christophe Castaner. (mit AFP)