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Flüchtlinge stehen auf einem Rettungsboot der Nichtregierungsorganisation "Proactiva Open Arms" und fahren in den Hafen von Algeciras in Südspanien.
© Reuters/Juan Medina

Philosoph David Miller: "Die Frage der Migration bringt die EU ins Wanken"

Der britische Philosoph David Miller über die Grenzen der Einwanderung in die EU, private Flüchtlingsretter und das Problem offener Grenzen. Ein Interview.

Herr Miller, die EU findet bislang keine gemeinschaftliche Lösung beim Umgang mit der Migration. Gefährdet diese Frage die gesamte EU?  

Wir können bereits beobachten, dass das Projekt der EU wegen dieser Frage ins Wanken gerät. Unter normalen Umständen ist die Grenzkontrolle eine Sache der staatlichen Souveränität. Im Fall der EU haben sich die Mitgliedstaaten nun bereit erklärt, einige Aspekte ihrer Souveränität im Gegenzug für die Vorteile der Gemeinschaft wie den freien Handel aufzugeben. Aber wenn man einige Teile der Souveränität aufgibt, dann muss man darauf vertrauen können, dass die Außengrenzen wirkungsvoll durch die EU geschützt werden. In der gegenwärtigen Lage ist es denkbar, dass die Bewegungsfreiheit innerhalb der EU, die zu einem Dogma der Gemeinschaft geworden ist, nicht mehr uneingeschränkt gelten kann. Es ist wohl unrealistisch, die Bewegungsfreiheit insbesondere für Migranten aufrecht zu erhalten.

Meinen Sie die Bewegungsfreiheit auf dem Weg in die EU oder innerhalb der EU?  

Beides. Im Inneren der EU muss die Frage, wie viel Bewegungsfreiheit Asylbewerber genießen dürfen, flexibel gehandhabt werden. Und nach außen hin muss die EU garantieren, dass die Grenzen wirkungsvoll überwacht werden. Ansonsten werden die Staaten dazu übergehen, wieder Grenzkontrollen einzuführen. Dies ist ja zum Teil bereits der Fall. Eine der grundlegenden Aufgaben des Staates besteht darin, seine Bürger zu schützen, was auch Grenzkontrollen einschließt.

Professor David L. Miller ist politischer Philosoph und Sozialwissenschaftler am Nuffield College in Oxford.
Professor David L. Miller ist politischer Philosoph und Sozialwissenschaftler am Nuffield College in Oxford.
© promo/University of Oxfort, Nuffield College

Rechtspopulisten in Europa verfolgen in der Flüchtlingspolitik widersprüchliche Ziele. Die italienische Lega verlangt eine gerechtere Verteilung der Migranten innerhalb der EU, was die Fidesz in Ungarn ablehnt. Wie kann der Konflikt gelöst werden?  

Ich würde das Prinzip der Lastenteilung unterstützen, insbesondere bei hohen Flüchtlingszahlen. Man muss bei dieser Lastenteilung die Aufnahmekapazitäten der einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigen. Es muss einen Raum für Verhandlungen darüber geben, wie viele Asylbewerber jeder einzelne Staat aufnimmt. Aber wenn das Verteilsystem einmal beschlossen ist, muss es auch von allen akzeptiert werden.

Aber grundsätzlich sollte jeder Staat Flüchtlinge, in welcher Zahl auch immer, aufnehmen?  

Ja, wobei die jeweilige Fähigkeit der Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren, in Betracht gezogen werden muss. Wenn man Mitglied in der EU ist, muss man manchmal Dinge akzeptieren, die nicht unbedingt der eigenen Politik entsprechen. Der Preis der Mitgliedschaft liegt darin, dass man einige Einschränkungen hinnehmen muss. Die Fidesz-Partei kann nicht gleichzeitig die Mitgliedschaft in der EU befürworten und ein EU-weites System zur Verteilung von Asylbewerbern ablehnen.

Was halten Sie von der Idee, dass in Asylzentren auf europäischem Boden eine Auswahl vorgenommen wird, wer bleiben darf und wer wieder abgeschoben werden muss?  

Das ist die logische Folge der Überlegung, dass europäische Probleme auch auf EU-Ebene gelöst werden müssen. Die Einrichtung solcher Asylzentren scheint in meinen Augen unvermeidlich zu sein: Sobald man es mit hohen Flüchtlingszahlen zu tun hat, muss man in der Lage sein, Asylanträge schnell und effizient zu bearbeiten, ohne die Menschenrechte der Flüchtlinge aus dem Auge zu verlieren. Man sollte die Kosten und den personellen Aufwand dabei nicht unterschätzen: Man muss die Fluchtumstände jeder Einzelperson untersuchen und Menschen mit einer Asylberechtigung von jenen unterscheiden, bei denen dies nicht der Fall ist. All dies muss gemeinschaftlich bewältigt werden. Es ist unfair, wenn man nur einigen Staaten, die am Mittelmeer liegen, diese Aufgabe aufbürdet. Am sinnvollsten wäre es natürlich, wenn Asylanträge bereits in den Herkunftsländern oder in benachbarten Staaten wie der Türkei und Libanon bearbeitet werden könnten.

Zu den nordafrikanischen Staaten, die die Aufgabe der außereuropäischen Grenzsicherung übernommen haben, gehört Libyen. Ist eine solche Lösung angesichts der inhumanen Bedingungen in den libyschen Flüchtlingslagern überhaupt haltbar?  

Es ist eine tragische Entwicklung, dass Libyen ein Durchgangsland für alle möglichen Migranten geworden ist. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es nicht denkbar, Asylverfahren in Libyen durchzuführen. Es muss darum gehen, ein Ablegen der Flüchtlingsboote von der libyschen Küste zu verhindern und gegen die Menschenschmuggler dort vorzugehen.

Welche Rolle spielen private Flüchtlingsretter auf dem Mittelmeer? Wirken sie als Pull-Faktor, ziehen sie also zusätzliche Migranten an, oder nicht?  

Zunächst einmal: Die Menschen, die sich auf den Schiffen von Nichtregierungsorganisationen an der Flüchtlingsrettung beteiligen, folgen einem humanitären Ideal. Und jedes Schiff, das den Weg von Menschen in Seenot kreuzt, ist zur Hilfe verpflichtet. Daran gibt es keinen Zweifel. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Menschen, welche private Rettungsmissionen betreiben, die volle Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Inzwischen ist deutlich geworden, dass sich die Schlepper auf die Rettungsmissionen verlassen, wenn sie die Migranten in kaum seetaugliche Boote setzen. Wenn es keine Rettung durch private Organisationen oder den staatlichen Küstenschutz gäbe, würde niemand mehr die Schlepper dafür bezahlen, die Boote zur Verfügung zu stellen. Deshalb gebe ich denen Recht, die private Flüchtlingsretter als Pull-Faktor betrachten. Die Flüchtlingsrettung sollte staatlichen Organisationen überlassen bleiben.

Hat das Brexit-Votum der Briten im Jahr 2016 etwas mit den hohen Flüchtlingszahlen der Jahre 2015 und 2016 zu tun?  

Es gab unterschiedliche Gründe, warum die Menschen sich für den Brexit ausgesprochen haben. Die hohen Zahlen bei den Asylbewerbern in jenen Jahren haben beim Brexit-Votum zwar keine Rolle gespielt, weil Großbritannien vergleichsweise wenig Flüchtlinge aufgenommen hat. Die allgemeine Frage der Einwanderung, auch aus anderen Ländern der EU, war beim Brexit-Votum aber sehr wohl ein Faktor. Es ging um den Wunsch, mehr Kontrolle über die Politik auf der nationalen Ebene zu übernehmen. Und die Kontrolle bei der Einwanderung spielte dabei eine wichtige Rolle. Man muss die Einwanderungsfrage aber in einem größeren Rahmen sehen: Ganz grundsätzlich ging es den Leuten beim Referendum im Juni 2016 darum, die Entscheidungsgewalt weg von der EU und näher zur Bevölkerung zu verlagern.

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