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Treibhaus der Demokratie steht an der Fassade des Deutschen Nationaltheater hinter dem Goethe-Schiller-Denkmal. Hier trat vor 100 Jahren dei Nationalversammlung zusammen.
© Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa

Weimarer Reichsverfassung: Vor 100 Jahren trat die Nationalversammlung erstmals zusammen

Das Urteil über die Weimarer Republik wandelt sich zum Positiven. Nicht mehr ihre Zerstörung 1933 steht im Vordergrund, sondern die Errungenschaften. Ein Essay.

Ein Essay von Bernhard Schulz

Wenige Tage nach dem 30. Januar, diesem Schicksalsdatum der deutschen Geschichte, fällt der unvoreingenommene Blick auf die dem NS-Regime vorangehende Weimarer Republik besonders schwer. Deren Beurteilung hat seit der Gründung der Bundesrepublik vier Jahre nach Kriegsende jahrzehntelang darunter gelitten, lediglich als Vorläufer des „Dritten Reichs“ gesehen zu werden. Selbst als sich diese Verknüpfung, die durch den Übergang der Notverordnungskabinette ab 1930 zur Kanzlerschaft Adolf Hitlers gegeben scheint, zugunsten einer differenzierten Betrachtung lockerte, blieb doch die These vom deutschen „Sonderweg“ bestehen, der zufolge Deutschland sich spätestens seit dem Bismarck-Reich von der Entwicklung des Westens abgekoppelt und damit das spätere Scheitern der Republik vorbereitet habe.

Parallel zu dieser, mittlerweile als überholt geltenden Bewertung der Weimarer Republik kam die verklärende Sicht der „Goldenen Zwanziger Jahre“ auf. An der Oberfläche ihres gesellschaftlichen und kulturellen Lebens hat die kurze Epoche der Republik einen solchen Bildervorrat hinterlassen, dass daraus immer wieder neue Geschichten gewonnen werden, wovon die jüngste Fernsehserie „Babylon Berlin“ nur ein Beispiel darstellt.

Abgesehen von solcher Ausbeutung des Bildervorrats von Weimar bietet das damalige Kulturleben tatsächlich eine staunenswerte Fülle neuartiger Leistungen. Es ist, als ob die im späten Kaiserreich bereits angelegte Moderne sich nach 1918 gänzlich frei habe entfalten können. Doch der faszinierte Blick auf die „Weimar Culture“ übersieht die enormen sozialen Spannungen, die überhaupt erst jenes Klima der Rastlosigkeit und Gehetztheit erzeugten, in dem sich die metropolitane Kultur herausbilden konnte. Brecht-Weills Kapitalismus-Oper „Mahagonny“, Otto Dix’ Bildnisse von Kriegsinvaliden, Alfred Döblins Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“ sind die kulturellen Blüten auf dem unguten Nährboden tiefgreifender und nie bewältigter sozialer Verwerfungen. Und es ist dies eben die Kultur hauptsächlich der Metropole Berlin, der ein verunsichertes, rückwärtsgewandtes und lange Zeit sprachloses kulturelles Milieu gegenübersteht, das dann, als es eine Stimme hörte, die es für die eigene hielt, heillos ins nationalsozialistische Fahrwasser abdriftete.

Die soziale Schichtung aus der Kaiserzeit bestand in der Republik weitgehend fort

Was aber am scheinbar unverbundenen Nebeneinander politischer, sozialer und kultureller Phänomene der Weimarer Republik deutlich wird, ist eben, dass diese Epoche sich nicht auf einen einheitlichen Nenner bringen lässt. Dafür ist, ausgehend von Reinhart Koselleck, der Begriff der „Zeitschichten“ aufgekommen. Der Historiker Jörn Leonhard sprach kürzlich mit Blick auf die „komplexe Struktur sich überlagernder Zeitschichten“ von der „Gleichzeitigkeit von historisch ungleichzeitigen Bedeutungsebenen“. Das zielt auf den Umstand, dass die Geschichte der Republik zugleich als abgeschlossen und einmalig, aber ebenso als Analogie und wiederkehrendes Muster späterer Kapitel der Geschichte wie eben der Bundesrepublik verstanden werden kann.

Versucht man das komplexe Erscheinungsbild Weimars in dieser Weise zu differenzieren, lassen sich zumindest die drei Schichten der politischen, der sozialen oder sozioökonomischen sowie der kulturellen Realität unterscheiden. Sie gehören in der Tat auf frappierende Weise unterschiedlichen Epochen an. Der berühmte Vergleich unter einem Buchtitel von 1956, „Bonn ist nicht Weimar“, zielte vordringlich auf die politische Ebene. Dies war der Blickwinkel, unter dem Weimar nach der Katastrophe des Nazi-Regimes betrachtet wurde. Von der Politik der Vorgängerrepublik und ihrer politisch-staatsrechtlichen Konstruktion sich abzugrenzen, war das Gebot der Stunde.

Diese Debatte, fokussiert auf die Defizite der Weimarer Reichsverfassung, hat sich mit der erwiesenen Tauglichkeit des bundesdeutschen Grundgesetzes nun schon seit Jahrzehnten erledigt. Über die Mängel der Weimarer Verfassung geriet jedoch aus dem Blick, was die größte Errungenschaft der Republik war: nämlich die Einführung der Demokratie. Was 1848/49 blockiert worden war, fand 70 Jahre später seine Erfüllung. Dass die Demokratie ihren erklärten Feinden die Möglichkeit bot, sie planvoll zu schwächen und schließlich zu zerstören, steht dazu nicht im Widerspruch. Zudem wird meist übersehen, dass die Demokratie nicht nur auf der Ebene des Gesamtstaates, sondern auch der der Länder bestand – und erfolgreich war, wofür ausgerechnet Preußen ein leuchtendes Beispiel bot.

Ein anderer Aspekt hingegen ist erst in jüngster Zeit in den Blick geraten. Er betrifft das Parteiensystem, das sich nach 1945/49 sehr rasch herausgebildet und als beständig erwiesen hat, erkennbar an der Integration der ursprünglich außerparlamentarischen grün-ökologischen Richtung in den etablierten Politikbetrieb. Am rechten Rand des Spektrums ist das nicht gelungen und war auch, der historischen Erfahrung mit dem Nationalsozialismus eingedenk, nicht erwünscht. Die Ausgrenzung der rechtsnationalen NPD Ende der 1960er Jahre schien eine solche Aufweitung des Parteienspektrums erledigt zu haben. Das Aufkommen der AfD hingegen ließ sich bislang nicht gleichermaßen abstoppen, weil es komplementär zur Erschöpfung der Volksparteien erfolgt.

Gerade das Modell der Volkspartei aber wurde als wirkmächtigste Konsequenz aus dem prekären Zustand der Weimarer Republik verstanden, in der sich ideologisch festgelegte und sozial verortete Parteien unversöhnlich gegenüberstanden. Die Gründung der CDU als Überwindung des konfessionellen – wie auch jedes landsmannschaftlichen – Gegensatzes war eine bedeutende Folgerung aus den Mängeln des Weimarer Parteiensystems; ferner das Verschwinden des Konflikts von SPD und KPD, weniger durch das umstrittene KPD-Verbot 1956 als – so Jürgen Kocka – durch die „Exterritorialisierung“ des Kommunismus in die DDR und ihre Staatspartei SED. Die Labilität des Parteiensystems von Weimar, bei dem am Ende die extremistischen Parteien von rechts wie von links die Mehrheit eroberten, hat erheblich zum Scheitern der ersten Republik beigetragen.

Der Wandel des Parteiensystems war die wichtigste Lektion der Politik in der jungen Bundesrepublik

Das derzeit vermutete Ende der Volksparteien verweist auf den voranschreitenden Umbruch der Sozialstruktur unter dem Druck von Digitalisierung und Globalisierung. Dieser Prozess ist mittlerweile zum Dauerthema des gesellschaftlichen Selbstgesprächs geworden. Es mag sein, dass die – bereits Mitte der 1950er Jahre vom Soziologen Helmut Schelsky ausgerufene – „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ stets eher ein Wunschtraum war, als dass sie der tatsächlichen Sozialstruktur der Bundesrepublik entsprach. Gleichwohl lieferte die allgemeine Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand – Stichwort „Wirtschaftswunder“ – mit der Aussicht auf immerfort steigende Realeinkommen einen Maßstab für die Konvergenz früher scharf getrennter sozialer Schichten.

Darin liegt ein fundamentaler Unterschied zur Weimarer Republik, in deren ihrerseits aus dem Kaiserreich herüberragende Klassenstruktur einzig die „neuen Angestellten“ als gesonderte soziale Schicht und nicht zuletzt als kulturelles Milieu hineinwuchsen. Zudem brach die Beschäftigung junger und alleinstehender Frauen die tradierten Geschlechterverhältnisse auf. Die unfreien Arbeitsverhältnisse von Frauen in der Landwirtschaft wie als Dienstmädchen waren schon in der Revolution beseitigt worden. Im Laufe des Ersten Weltkriegs hatte die zunehmende Beschäftigung von Frauen in Industrie und Gewerbe zu einem Bewusstseinswandel geführt, der in die unstrittige Einführung des Frauenwahlrechts Ende 1918 mündete – eine Errungenschaft, die andere europäische Länder weit später verzeichneten.

Überhaupt stehen grundlegende Veränderungen in den rechtlichen Verhältnissen, beim Wahlrecht wie in den Arbeitsbeziehungen, am Beginn der Weimarer Republik. Die Arbeitswelt veränderte sich grundlegend mit der Einführung des gesetzlichen Achtstundentages und der Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifpartner, beides noch am Ende des Kaiserreichs. Allerdings blieb die Klassenteilung der Gesellschaft ebenso bestehen wie die Differenz von industrialisierten und agrarischen Regionen. Der am Ende der Republik so verhängnisvolle Einfluss der ostelbischen Großgrundbesitzer wurde nie in Frage gestellt, die Frontstellung von Großbourgeoisie und Arbeiterschaft kennzeichnete die Industrieregionen von Oberschlesien bis zum Ruhrgebiet. Die Zusammensetzung der politischen Akteure von (adligem) Militär, Großagrariern und Industriellen bis zu Kirchen und Gewerkschaften blieb die gesamte Republik über bestimmend.

Gegenüber der Kultur der Moderne gab es ein traditionelles bis reaktionäres Milieu

Was zwischen den Schichten der Besitzenden und der Habenichtse als Mittelstand gelegen war, hatte zu großen Teilen die Bereinigung der Kriegsschulden im Taumel der Hyperinflation von 1923 zu tragen und ging zum Ende der Republik unter dem erneuten Wohlstandsverlust durch die Weltwirtschaftskrise den Weg der Radikalisierung, treffend bezeichnet als „Extremismus der Mitte“.

Für die Weimarer Republik ist zwar das Fortbestehen der kaiserzeitlichen Sozialstruktur – mit dem erwähnten Hinzutreten der Angestelltenschicht – kennzeichnend, doch unter Wegfall spätfeudaler, persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse und bei gleichzeitiger Ausgestaltung des auf einer entsprechenden Gesetzgebung ruhenden Sozialstaates. Ralf Dahrendorf hat allerdings Ende der 1960er Jahre darauf aufmerksam gemacht, dass die der Weimarer Epoche zugeschriebene Modernisierung der Gesellschaftsstruktur, wie sie dann in der Bundesrepublik sichtbar wurde, eher durch die Umwälzungen von Nazi-Regime und Krieg bewirkt wurde; etwa die Durchmischung und weitgehende Auflösung der konfessionellen Milieus, die in Weimar so einflussreich waren.

In der hier gezeichneten Perspektive bliebe als eigentümliches Spezifikum der Epoche die – mit dem Wort von Peter Gay – „Weimar Culture“. Sie erschöpfte nicht in der künstlerischen Moderne. Vielmehr kamen die technischen, wissenschaftlichen und intellektuellen Neuerungen der Kaiserzeit erst jetzt ganz zum Tragen. Die kaiserzeitliche Opposition der künstlerischen Moderne gegen die etablierten Mächte, insbesondere die des Hofes und des Adels, hatte sich Ende 1918 erledigt, und es hat den Anschein, dass die progressive Kultur von Weimar sich – bis auf punktuelle Konflikte – weitgehend ungehindert entfalten konnte.

Die nachträgliche Identifizierung der intellektuellen und kulturellen Avantgarde mit „der“ Weimarer Republik allerdings verkennt, dass es in ihr zugleich ein kulturelles Milieu gab, in den Schattierungen von traditionell bis reaktionär, das zwar abseits der Reichshauptstadt bestand, aber alles andere als einflusslos war. Die zweimalige Schließung des „Bauhauses“ durch die politische Rechte bereits in den zwanziger Jahren, erst in Weimar, dann in Dessau, ist dafür der prominenteste Beleg. Als die Nazis später von der Republik als „Verfallszeit“ sprachen, konnten sie sich der Zustimmung breiter Teile der Bevölkerung sicher sein.

Der latente Bürgerkriegscharakter, den die politischen Konflikte in der Endphase der Republik annahmen, versperrte jedem rationalen Kompromiss den Weg. Es kam zum Verlust der Steuerungsfähigkeit. Dies war auch, aber eher nur zum geringeren Teil den angesprochenen Konstruktionsfehlern zuzuschreiben. Die Weimarer Republik, außenpolitisch auf sich allein gestellt und innenpolitisch bereits ausgehöhlt, konnte die massiven Krisen, die sich vom Versailler Vertrag bis zur Weltwirtschaftskrise immer wieder aufgetürmt hatten, am Ende nicht mehr systemkonform bewältigen.

Wenn es eine Lektion gibt, die sich von Weimar für das heutige Deutschland lernen lässt, dann die, dass der demokratische Grundkonsens der institutionellen Akteure, nicht zuletzt der Parteien, gewahrt bleiben muss, um die Funktionsfähigkeit des politischen Systems zu erhalten.

Doch ungeachtet der Kritik im Einzelnen besteht aller Anlass, auf die Weimarer Republik im Ganzen stolz zu sein. Ihre Errungenschaften, unter denen die Demokratie an erster Stelle steht, bilden den Ausgangspunkt für das, was uns in der Bundesrepublik als gut, geglückt und vor allem als selbstverständlich erscheint.

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