Urknall Karneval und was dann geschah: Von Heinsberg zum Deutschland-Shutdown – Chronologie einer Jahrhundert-Krise
Seit Karnevalsdienstag ist die deutsche Politik im Coronamodus: Grundrechte werden eingeschränkt, Milliardenpakete geschnürt. Chronik einer „dynamischen Lage“.
Am 1. Dezember 2019, einem Sonntag, schwankt das politische Berlin noch zwischen Schock und Staunen. Seit 24 Stunden hat die SPD eine neue designierte Spitze – Saskia Esken und Norbert Walter- Borjans, eine Hinterbänklerin und ein Ex-Landesminister. Dass in einem Krankenhaus in Wuhan ein Patient mit einer mysteriösen Lungenkrankheit in ein Hospital kommt, hätte hierzulande nicht mal jemanden interessiert, wenn China den Vorgang nicht vertuscht hätte.
Als die chinesischen Behörden am 23. Januar die Millionenstadt abriegeln, ist es schon zu spät. Sars-CoV-2, der Erreger aus der Familie der Coronaviren, hat fast zwei Monate lang Zeit gehabt, um sich auf den Weg in die Welt zu machen. Er wird sie verändern wie vor ihm nur die großen Kriege.
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Und er zwingt Forscher, Politiker und Bürger in einen beispiellosen Lernprozess. Einen Tag nach dem Shutdown in Wuhan meldet Frankreich den ersten Fall in Europa, am 28. Januar wird ein Mitarbeiter des Autozulieferers Webasto in München in Klinik-Quarantäne gesteckt. Er hatte sich während einer Weiterbildung bei einer chinesischen Kollegin angesteckt.
Deutsche Virologen, die wie der Sars-Entschlüssler Christian Drosten von der Charité früh an der Jagd der Wissenschaft nach dem neuen Erreger eingebunden waren, senden beruhigende Botschaften: Die Krankheit verläuft meist harmlos. „Das Coronavirus ist bei Weitem nicht gefährlicher als die Grippe“, sagt der Bonner Virologe Hendrick Streeck.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) stuft das Risiko für die Bürger als gering ein. Jens Spahn sieht deshalb keinen Grund zur Panik. „Es war zu erwarten, dass das Virus auch Deutschland erreicht“, sagt der Bundesgesundheitsminister. „Der Fall aus Bayern zeigt aber, dass wir gut darauf vorbereitet sind.“ Spahn hat Grund zum Optimismus. Der Ausbruch wurde auf die Webasto-Gruppe begrenzt. Deutschlands Hochleistungsmedizin funktioniert.
25. FEBRUAR: EIN KARNEVAL VERÄNDERT ALLES
Im rappelvollen Saal der Bundespressekonferenz geben sich am Karnevalsdienstag drei Herren die Klinke in die Hand. Friedrich Merz will sich um 11 Uhr als Kandidat für den CDU-Vorsitz vorstellen. Doch zwei andere kommen ihm knapp zuvor, sie laden kurzfristig für 9.30 Uhr ein. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und der Minister Spahn wollen im Team antreten, um das Sprungbrett ins Kanzleramt zu erobern.
Dass an diesem Tag die Stunde null in der politischen Corona-Zeitrechnung Deutschlands schlägt, ahnt noch keiner der drei. China scheint weit weg zu sein. Selbst Italien, das den siebten Todesfall meldet, wirkt auf viele noch wie ein Sonderfall.
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Um 21.59 Uhr landet eine Eilmeldung in den Redaktionen: „Nach Baden-Württemberg ist erstmals auch ein Patient in Nordrhein-Westfalen nachweislich an dem neuartigen Coronavirus erkrankt.“ Landes-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann beruhigt: Das Gesundheitssystem sei gut vorbereitet. Für Flugreisende aus China wird lediglich eine Befragung vorgeschrieben: Nach der Landung müssen sie sagen, ob sie zu einem Corona-Infizierten Kontakt hatten.
26. FEBRUAR BIS 11. MÄRZ: EINE REGIERUNG SUCHT NACH MASS UND MITTE
Aschermittwoch, 26. Februar. Langsam wird klar, was bei einer Karnevalssitzung in Heinsberg passiert ist. 300 Menschen waren Mitte Februar mit dem Infizierten im Saal. In den zwei Wochen danach, berichtet Landrat Stephan Pusch, habe der Mann „eine unendliche Vielzahl von Kontakten“ zu anderen Menschen gehabt. Der Kreis schließt Schulen und Kindergärten für eine Woche.
Und Minister Laumann sagt einen Satz, der ahnen lässt, dass eine Eindämmungsstrategie wie bei Webasto nicht mehr funktioniert: „Wir können nicht garantieren, dass wir die Infektionsketten gestoppt kriegen.“
Heinsberg markiert in der Rückschau für die Politik die Wende: Die Krise ist ab jetzt kein Lokalereignis mehr. In Düsseldorf bittet ein eilends gebildeter Krisenstab die Karnevalsbesucher, sich zu melden. Auch die Bundesregierung setzt unter Federführung des Bundesinnen- und des Bundesgesundheitsministeriums einen Krisenstab ein.
Sie hat seit 2012 ein Pandemieszenario vorliegen, das sich wie eine Blaupause für den Coronaausbruch liest. Darin wird auch gemahnt, es brauche „Schutzausrüstung wie Schutzmasken, Schutzbrillen und Handschuhe“ im großen Stil. Doch die Verfasser stuften die Wahrscheinlichkeit ihres Szenarios selbst als sehr gering ein. Vorratshaltung schien so übertrieben wie auf viele noch die zweiwöchige Quarantäne wirkte, die 156 Heimkehrer aus Wuhan in einer Bundeswehrkaserne absolvieren müssen.
In Kliniken gilt die Losung: Jedes freie, teure Intensivbett ist ein Fluch. Wenig später gilt es als Segen. Der Krisenstab beschließt, man müsse sich jetzt unbedingt erst mal um die Beschaffung von mehr Masken kümmern.
28. Februar. Der Jahresempfang in ihrem vorpommerschen Bundestagswahlkreis in Stralsund ist für Angela Merkel ein Pflichttermin. Die Kanzlerin plädiert für „Maß und Mitte“. Man müsse nicht gleich alle Veranstaltungen absagen. Deutschland habe beste Voraussetzungen, um mit dem Virus klarzukommen.
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Dazu könne ja auch jeder Einzelne beitragen: „Ich gebe heute Abend niemandem die Hand.“ Merkel hat im Moment eher andere Sorgen. Öffentlichkeit und Medien interessiert viel brennender, wie die Kanzlerin mit Recep Tayyip Erdogans neuester Provokation umgeht: Der türkische Präsident schickt gezielt Flüchtlinge nach Griechenland, um Europa zu Hilfszahlungen und Unterstützung seiner militärischen Syrien-Abenteuer zu zwingen.
Auch in der Bundesregierung wird noch nach Mittelwegen gesucht. Spahn will mit der Absage von Großveranstaltungen wie der Internationalen Tourismusbörse warten, zumal er sie selbst gar nicht verfügen kann. Innenminister Horst Seehofer plädiert für die Absage, die kurz danach auch kommt. Seehofer hat aus der Zeit als Agrarminister eine Erfahrung mitgenommen: Bei Seuchen – egal ob Vogelgrippe oder Corona – ist harte Hand gefragt, will man nicht hinterher am Pranger landen.
4. März. Das Schutzproblem wird immer offensichtlicher. Das Gesundheitsministerium soll sich zentral kümmern, das Beschaffungsamt der Bundeswehr in Koblenz wird bald ebenfalls eingeschaltet. Das Wirtschaftsministerium verhängt ein Ausfuhrverbot für Masken, Handschuhe und Schutzanzüge. Das sorgt für viel böses Blut in Europa. Mitte März gibt die Bundesregierung dem Druck nach: Aus dem Verbot wird ein Genehmigungsvorbehalt.
6. März. Die Stadt Mönchengladbach genehmigt in „Abwägung der Gesamtsituation“, dass die zwei Borussias – Gladbach und Dortmund – ihr Bundesligaspiel vor 54 000 Zuschauern austragen dürfen. „Weil wir bei diesem Spiel nicht mit einer Situation rechnen, wo sich übermäßig Leute infizieren“, sagt Stadtsprecher Wolfgang Speen. Laschet wird sich als zuständiger Ministerpräsident dafür noch lange und oft rechtfertigen müssen. Das Stadion liegt keine zehn Kilometer vom Kreis Heinsberg entfernt.
Dort gibt es schon 200 Corona-Infizierte. 550 Heinsberger nehmen das Angebot an, ihre Tickets erstatten zu lassen. In den Stadiontoiletten hängen Informationszettel: Wie man sich gründlich die Hände wäscht.
8. März. Die Krisenstäbe bekommen mit dem täglichen Briefing beunruhigende Nachrichten. RKI-Präsident Lothar Wieler berichtet: „Aktuell werden vermehrt positiv getestete Covid-19-Fälle mit einer Reiseanamnese nach Südtirol gemeldet.“ Das Virus kommt mit Skiurlaubern heim, es gibt nicht mehr einige wenige Infektionsherde, sondern viele. Um 15.48 Uhr schickt Spahn einen Tweet: „Nach zahlreichen Gesprächen mit Verantwortlichen ermuntere ich ausdrücklich, Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern bis auf Weiteres abzusagen.“
Abends kommen die Spitzen von Union und SPD im Kanzleramt zusammen. Um 02.35 Uhr verschickt die Koalitionsrunde ihre Beschlüsse. Erster Punkt: Deutschland ist bereit, 1000 bis 1500 Flüchtlingskinder aus den griechischen Insel-Lagern aufzunehmen. Zum Thema Corona wird eine Lockerung beim Kurzarbeitergeld angekündigt – keiner ahnt da, dass mehr als 650 000 Betriebe diese staatliche Unterstützung später beantragen werden.
Öffentlich schweigt Merkel zu dem Thema Corona weitgehend, intern arbeitet sie sich in Infektionskurven ein. Zwei Tage später wird sie der Unionsfraktion den frisch angelernten Begriff der „Herdenimmunität“ erläutern: Eine Seuche stoppt erfahrungsgemäß erst von selbst, wenn 60 bis 70 Prozent der Menschen infiziert worden und danach immun sind. Die, die das Zitat nach draußen tragen, verstehen nur die Hälfte. Prompt ist die Aufregung groß: Rechnet Merkel mit Millionen Corona-Infizierten, mit einem Massensterben? Auch Politik-Redaktionen müssen eben erst mal die neue Sprache „Virologisch“ lernen.
11. BIS 15. MÄRZ: ALARMSTUFE HOCH
11. März. Die Kanzlerin macht die Krise auch öffentlich zur Chefsache. Offiziell ist ihr Auftritt vor der Bundespressekonferenz als Bericht vom ersten Videogipfel der EU angekündigt. Aber schon dass Spahn und RKI-Chef Wieler dabeisitzen, macht den Ernst der Lage klar. Merkel erläutert, was Regieren unter dem Virus bedeutet: Die Maßstäbe für das Handeln an dem ausrichten, was die Wissenschaft sagt, auch wenn sich das Wissen und die Ratschläge verändern. „Es ist eben eine sehr dynamische Lage.“ Die Regierungschefin erklärt auch das Konzept, das von da an das Handeln bestimmen wird: Die Ausbreitung verlangsamen, „die Kurve abflachen“, damit das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Da sei es nicht das zentrale Problem, „ob ein Fußballspiel, wenn ich das so hart sagen darf, mit oder ohne Publikum stattfindet.“ Oder ein CDU-Sonderparteitag zur Vorsitzendenwahl. Auch der wird tags darauf offiziell abgesagt.
Während Merkel auftaucht, geht Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller mit seinem Krisenmanagement etwas unter. Nach langem Hin und Her will auch der Berliner Senat Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Personen bis 19. April absagen. Müller sagt, dass er auf klare Anweisungen der Bundesregierung gewartet habe. Aber die kann gar nichts anweisen. „Jeder Kreisamtsarzt hat mehr zu sagen als der Bundesgesundheitsminister“, stöhnt ein Koalitionär. Und Merkel sagt kühl Richtung Müller: „Föderalismus ist nicht dafür da, dass man Verantwortung abschiebt.“
Am gleichen Tag melden sich führende Wirtschaftsforscher zu Wort. Das Sextett reicht von Ifo- Chef Clemens Fuest bis zum Ex-Wirtschaftsweisen Peter Bofinger quer durch die Lehrmeinungen. Diesmal sind sich alle einig: Der Staat wird sehr viel Geld in die Hand nehmen müssen, um den absehbaren Einbruch der Wirtschaft abzufangen – „schnell, gezielt und vorübergehend“, sagt Bofinger.
Was sie fordern, wird in den nächsten Wochen Regierungspolitik. Exekutiert werden die Rettungspakete von Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Finanzminister Olaf Scholz, dessen Videokonferenzen zu parallel notwendigen Hilfspaketen auf EU-Ebene bis zu 18 Stunden dauern.
Das Virus lässt die „schwarze Null“ in Deutschland rasend schnell Geschichte werden. Ihr Architekt, Staatssekretär Werner Gatzer, hat die Null-Verschuldung seit 2014 exerziert. Jetzt muss der Rheinländer 156 Milliarden Euro Neuverschuldung auf den Weg bringen, die größte deutsche Neuverschuldung in der Geschichte der Republik.
Die Börsen der Welt rauschen in den Keller. Die Lieferketten, Lebensadern der globalisierten Welt, brechen zusammen. Die Werkbank China ist stillgelegt. Die Finanzkrise erscheint nachträglich wie ein Witz dagegen. „Das hat es noch nie gegeben, dass Angebot und Nachfrage komplett zusammenbrechen“, stöhnt ein Staatssekretär aus dem Krisenstab.
12. März. Merkel berät mit den Regierungschefs der Länder im Kanzleramt. Es wird vorerst das letzte leibhaftige Treffen. RKI-Chef Wieler ist dabei, Charité-Chef Heyo Kroemer und sein Chef-Virologe Drosten. Allen steht die Apokalypse im italienischen Bergamo vor Augen. Die Stimmung ist düster. „Jeder überbietet sich im Verbieten“, sagt ein Teilnehmer. Aber hilft es, Schulen und Kitas zu schließen? Selbst die Fachleute sind unsicher.
Da platzt eine Eilmeldung aus Frankreich in die Sitzung. „Ab Montag und bis auf Weiteres werden alle Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Universitäten geschlossen“, sagt Präsident Emmanuel Macron. Tags darauf verordnen Bundesländer Schul- und Kitaschließungen. Nach einigem Zögern – und zahlreichen Infektionen in Clubs – verschärft zwei Tage später auch der Berliner Senat die Gangart. Versammlungen mit mehr als 50 Menschen sind tabu, Kneipen und Kinos sollen schließen.
16. BIS 22. MÄRZ: VOM CLUB-VERBOT ZUM LOCKDOWN
16. März. Über das Wochenende ist die Zahl der Corona-Infizierten stark angestiegen. Erneut berät sich Merkel mit den Regierungschefs der Bundesländer. Man einigt sich darauf, das öffentliche Leben herunterzufahren. Clubs und Museen, Messen und Kinos, Tierparks und Bordelle, alles muss schließen. Restaurants bleiben vorerst noch im reduzierten Betrieb offen. Aber das hält nicht lange. Denn von jetzt an geht es Schlag auf Schlag in einen Zustand, den viele noch kurz zuvor als Auswuchs einer asiatischen Diktatur gegeißelt hatten.
18. März. Angela Merkel hält zum ersten Mal außer der Weihnachts-Reihe eine Ansprache an ihr Volk. „Es ist ernst“, sagt die Kanzlerin. „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“ Merkel will, dass die Bürger freiwillig mitziehen. Sie weiß: Die Krise stellt dem freiheitlichen Westen auch die Systemfrage.
20. März. Markus Söder prescht vor. Der Bayer verhängt drastische Ausgangsbeschränkungen für den Freistaat. Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur noch bei triftigen Gründen erlaubt: Arbeit, Einkauf, Sport, Spazierengehen, maximal zu zweit, außer man wohnt zusammen. Die meisten anderen Ministerpräsidenten sind sauer. Söder ist aktuell Vorsitzender der Länderkonferenz, also Koordinator. Der Alleingang ist das genaue Gegenteil, auch wenn Bayern als Skiurlauber-Hochburg ein besonderes Problem hat: Von Tirol haben Heimkehrer das Virus über den ganzen Freistaat verbreitet.
Merkel geht am Abend im Supermarkt um die Ecke einkaufen: Schattenmorellen, Wein, Klopapier. Natürlich landet das Einkaufswagen-Foto in der Zeitung. Was sie da noch nicht weiß: Bei einem Arzt, der ihr eine Vorsorge-Impfung gegeben hat, wird wenig später eine Corona-Infektion festgestellt.
22. März. Die nächste Ministerpräsidentenrunde mit Merkel. Es kommt zum Streit um die Ausgangsbeschränkungen und andere Maßnahmen. NRW-Chef Laschet hat mit elf Kollegen eine Vorschlagsliste abgestimmt – diesmal wusste Söder nichts davon. Der Bayer droht mit Ausstieg aus der Telefonkonferenz. Merkel muss schlichten.
Hinter dem Krach stecken nicht nur die üblichen Rivalitäten von Länderfürsten, die sich, wie ein Bundespolitiker hinterher sagt, gerne selbst „über dem Papst“ sehen. Laschet wittert in dem als Krisenmanager allseits gelobten CSU-Mann einen Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur. Dieser Konflikt hält unterschwellig bis heute an: Kaum prophezeit Söder eine Maskenpflicht, zeigt sich der Nordrhein-Westfale gleich mal skeptisch – und Laschet ist es, der eine Debatte über baldige Lockerungen fordert und forciert.
Spahn, Laschets Teamkollege in Sachen CDU-Vorsitz, hält sich aus den Scharmützeln heraus. Der Gesundheitsminister präsentiert sich subtiler als Handelnder in der Krise. Twitter-Bilder zeigen ihn inmitten seines Lagezentrums, einen dekorativen Uniformträger als Vertreter der Bundeswehr zur Seite. Für den CDU-Vorsitz interessiert sich im Moment aber sowieso kaum jemand. Merz war milde coronakrank abgemeldet, vom dritten Bewerber Norbert Röttgen hört man nichts.
Nach dem Streit in der Merkel-Runde werden mit ein paar Variationen die bayerischen Regeln zur bundesweiten Vorschrift. Manche lokale Eigenwilligkeit muss später korrigiert werden. Niedersachsen etwa muss seine Baumärkte wieder für alle öffnen, nachdem seine Hobby-Handwerker in Scharen nach Bremen und Nordrhein-Westfalen gepilgert waren. Lokale Einreise-Verbote kippen vor Gericht.
Merkel hat die Beschlüsse gerade verkündet, da bekommt sie die Botschaft, dass ihr Arzt positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden ist. Von da an wird die stärkste Wirtschaftsmacht Europas per Telefon und Videokonferenz von Merkels Wohnung am Kupfergraben aus regiert.
25. MÄRZ: EIN PARLAMENT IM KRISENMODUS
Der Bundestag kommt zu einer denkwürdigen Sitzung zusammen. Wolfgang Schäuble sitzt ohne seine Schriftführer auf dem Präsidentenpult, im Plenarsaal sind zwischen jedem Abgeordneten zwei Stühle frei, nach jedem Redner wird das Pult desinfiziert. Eigentlich wollte das Parlament in etwas abgespeckter Besetzung tagen. Aber weil für die befristete Abweichung von der Schuldenbremse die Kanzler-Mehrheit von mindestens 355 Stimmen nötig ist, mussten die meisten kommen.
Der Tag ist die Bewährungsprobe der Demokratie. Schäuble hatte in der Woche davor intern die Frage aufgeworfen, ob man ein Notparlament wie für den Kriegsfall einberufen soll. Die Fraktionen fanden das zu martialisch. Befristete Sonderregelungen ja – ein Viertel der Abgeordneten reicht zur Beschlussfähigkeit, Ausschüsse dürfen per Video tagen; aber ansonsten so viel Normalität wie möglich.
In den Tagen davor telefoniert Merkel mit allen Fraktionschefs, auch denen der AfD, und unterrichtet sie über die Regierungspläne. In den Ministerien und im Kanzleramt ist Schlaf da schon Luxusgut. Kanzleramtschef Braun muss am Samstag und Sonntag mit drei Stunden auskommen. Anderen geht es nicht besser. Auch die Dimensionen der Beschlüsse können den Schlaf rauben. „Dieser Moment, wenn du das erste Mal in deinem Leben eine Garantie- und Freistellungserklärung über 93 Milliarden Euro unterschreibst ...“, erinnert sich Finanzstaatssekretär Wolfgang Schmidt.
Am Montag hat das Kabinett das im Eilverfahren gezimmerte Rettungspaket gebilligt. Am Dienstag vor der Bundestagssitzung spricht Spahn auf Merkels Bitten noch einmal mit den Fraktionschefs von FDP, Linken und Grünen. Sie sollen ihm am nächsten Tag gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen weitreichende Vollmachten übertragen. Die Opposition will, dass das Parlament den Pandemie-Notstand ausruft, nicht die Regierung. Spahn gesteht es ihnen zu. Denn es kommt an diesem 25. März auf ein Signal an: In der Krise stehen wir zusammen, was sonst auch immer uns trennen mag. Im Eiltempo, alle drei Lesungen an einem Tag, winkt das Parlament die Notmaßnahmen gegen das Virus und seine Folgen für Unternehmer und Arbeitnehmer durch.
Zu Beginn dankt Schäuble denen, die jetzt plötzlich zu Helden werden und amtlich als „systemkritisch“ eingestuft sind wie vorher Banken und Elektrizitätswerke: „Vor allem gebührt unser Dank und unsere Anerkennung den Ärztinnen und Ärzten, den Pflegekräften und den Gesundheits- und Sicherheitsbehörden, die täglich an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gehen.“
Das Plenarprotokoll vermerkt: „Langanhaltender Beifall im ganzen Hause – die Anwesenden erheben sich.“ Sogar die AfD trägt das meiste mit, paradoxerweise aber nicht das für das Gesetzespaket notwendige Aussetzen der Schuldenbremse wegen des Virus-Notstands.
26. MÄRZ BIS HEUTE: DURCHHALTEPAROLEN UND EXIT-FRAGEN
26. März. Im Kanzleramt wirkt es wie im Auge eines Orkans: ruhig. Mangels anderer Möglichkeiten schnippeln sich die Mitarbeiter in den Pausen ihr Gemüse selbst, Kanzleramtschef Braun stöhnt auf, als er bei der Sekretärin in seinen Terminkalender des Tages schaut, eine Telefon- oder Videokonferenz nach der nächsten. Im Interview mit dem Tagesspiegel sagt er: „Wir reden jetzt bis zum 20. April nicht über irgendwelche Erleichterungen. Bis dahin bleiben alle Maßnahmen bestehen. Läden, Restaurants, Schulen und die Universitäten sind geschlossen.“
Die relative Harmonie zwischen Bund und Ländern bekommt erste Risse. Das Merkel beratende Robert-Koch-Institut sei nicht unfehlbar, schimpfen manche hinter vorgehaltener Hand. Ministerpräsidenten suchen sich eigene „Hausvirologen“. Die meisten Länderchefs folgen Merkels Linie: nicht zu früh über einen Exit reden, keine falschen Erwartungen wecken – noch zwei Wochen müssen alle durchhalten. Nur Laschet schert aus der Front aus: Man müsse im Gegenteil den Menschen ein Licht am Ende des Tunnels zeigen und darüber auch offen reden.
1. April. Merkel verabredet mit den Ministerpräsidenten, dass die zunächst für zwei Wochen geltenden Kontaktbeschränkungen bundesweit bis zum 19. April verlängert werden. Und es gibt den dringenden Appell, auch Ostern daheim zu bleiben. Erstmals gibt es Ostern nur Online-Gottesdienste, die Kirchen sind überall geschlossen. Bei der anschließenden Telefon–Pressekonferenz bricht die Leitung zusammen. „Ja, Merkel?“ – meldet sich die Kanzlerin wenig später in der Leitung zurück. „Ist Söder noch dabei?“, fragt Merkel ins Off hinein und meint dann, sie müsse jetzt wohl ihren Text „leider noch mal losleiern“.
6. April. Merkels erster öffentlicher Auftritt nach der zweiwöchigen Hausquarantäne. Die Coronatests sind negativ ausgefallen. Sie sieht nun auch die Europäische Union in der größten Bewährungsprobe ihrer Geschichte. Österreich hat gerade einen ersten Exit-Zeitplan vorgestellt. Merkel sagt nur, die Bundesregierung denke ebenfalls über den weiteren Weg nach, doch noch sei es viel zu früh.
10. April. Die EU-Finanzminister beschließen nach erbittertem Streit und erst im zweiten Anlauf ein 540-Milliarden-Euro-Hilfspaket für die besonders schwer von der Seuche getroffenen Mitglieder. Italiens Regierung besteht auch danach auf der Einführung von Corona-Bonds. Scholz und die Kollegen aus Den Haag und Wien haben das abgelehnt.
15. April. Bund und Länder wollen entscheiden, wie es ab dem 20. April weitergeht. Ob es ein gemeinsamer Weg bleibt, ist offen. Laschet und sein Hausvirologe, der Bonner Streeck, wollen mit einer Studie im Kreis Heinsberg Lockerungen begründen. Ein erstes Zwischenergebnis gibt aber mehr Anlass zu Fragen als Antworten. Merkel wartet auf eine angekündigte Empfehlung der Forschungsgemeinschaft Leopoldina. Die riet zuletzt zum Tragen von Masken, auch selbst gemachten. Die Kanzlerin hat sich also auf dem Gebiet schon mal kundig gemacht: „Regelmäßiges Waschen, nicht zu lange tragen, heiß bügeln oder in den Backofen oder in die Mikrowelle stecken“, erläuterte Merkel kürzlich.