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Bargeld lacht: Eine Familie in Dresden mit der neuen Währung, die ab 1. Juli 1990 galt.
© IMAGO STOCK&PEOPLE

Theo Waigel zu 30 Jahre Währungsunion: „Von den Mythen wird nicht viel übrigbleiben"

Am 1. Juli 1990 brachte die Währungsunion der DDR die D-Mark und Massenarbeitslosigkeit. Ex-Finanzminister Waigel und Ostbeauftragter Wanderwitz ziehen im Interview Bilanz.

Herr Waigel, was vermissen Sie an der D-Mark?
Theo Waigel: Ich vermisse die D-Mark nicht, obwohl ich gerne an sie zurückdenke. Ich habe 1948 im Alter von neun Jahren beim Rechner der Raiffeisenkasse in Bayersried-Ursberg mein eigenes Guthaben und die meines Vaters in D-Mark umgetauscht. Die D-Mark wurde dann zu einer Erfolgsstory, auf die wir Deutsche stolz sein dürfen. Sie gehörte zu unserer Identität. Trotzdem war es richtig, 1999 die gemeinsame europäische Währung zu schaffen, um Europa in der Welt zu stärken.
Herr Wanderwitz, vermissen Sie irgendwas an der Ostmark?
Marco Wanderwitz: Nein, definitiv nicht. Ich habe nicht lange mit diesen kleinen Fünf-Mark-Scheinen und den „Alu-Chips" gelebt, als die Mauer fiel, war ich 14. Mit dem Geld konnte man nicht viel kaufen, deshalb hing auch kaum jemand in der DDR an der Ostmark.

Waigel: Der DDR-Finanzminister Walter Romberg, mit dem ich den Staatsvertrag unterschrieben habe, hat mir eine Ostmark-Sammlung geschenkt. Ich habe also noch Ostmark.

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Herr Waigel, wie viel Westgeld musste zur Währungsunion am 1. Juli 1990 musste eigentlich in den Osten geschafft werden und wie haben Sie das geschafft?
Waigel: Für die Bundesbank und ihre Mitarbeiter war das ein Kraftakt. 440 Millionen Banknoten im Gegenwert von rund 13,5 Milliarden DM mit einem Gewicht von 460 Tonnen mussten mit Lastwagen über die innerdeutsche Grenze geschafft werden, dazu 102 Millionen Münzen im Wert von einer Milliarde DM, die rund 750 Tonnen auf die Waage brachten. Zum Teil hat die Nationale Volksarmee die Lastwagen bewacht, es gab keine Überfälle, keine einzige D-Mark ging verloren. Gleichzeitig mussten 25 Millionen Konten umgestellt werden.
Wo waren Sie am 1. Juli 1990, Herr Waigel?

Waigel: Am Vortag hatte ich in Budapest mit osteuropäischen Finanzministern beraten und war am Abend auf dem Flughafen Schönefeld gelandet, übernachtete in einem Hotel in Ost-Berlin. Ich war also vor Ort. Wir hatten dann am 1. Juli eine Pressekonferenz mit DDR-Minister Romberg. Die wurde von einer schüchternen jungen Dame geleitet, die stellvertretende Pressesprecherin bei Ministerpräsident Lothar de Maiziere war. Sie hieß Angela Merkel, das mit der Schüchternheit hat sich inzwischen gelegt. Am Schluss der Pressekonferenz bat mich ein amerikanischer Journalist um ein Statement auf Englisch. Ich sagte ihm: Everything is under control.

Herr Wanderwitz, was haben Sie von Ihrer ersten D-Mark gekauft?
Wanderwitz: Die habe ich ja nicht erst am 1. Juli 1990 bekommen. Wir waren schon im November 1989 nach Naila in Franken gefahren und bekamen dort Begrüßungsgeld. Davon habe ich mir einen Kassettenrecorder mit zwei Laufwerken gekauft, mit dem ich die Hitparade von Bayern 3 aufnehmen und dann die Moderation besser als mit dem Stern-Recorder herausschneiden konnte, so dass ich Musik pur abspielen konnte. Was man halt so macht – damals als Jugendlicher.
Waigel: Wie war das für Sie damals – zum ersten Mal im Westen, Herr Wanderwitz?
Wanderwitz: Ich kannte vieles aus dem Fernsehen, denn wir konnten glücklicherweise Westfernsehen empfangen, weil wir nahe an der Grenze wohnten. Meine Großeltern waren schon Rentner und durften reisen, wir hatten auch Verwandtschaft in Wiesbaden. Natürlich war das ein toller Moment, das als Teenager zu erleben. Die ganze Dimension der Grenzöffnung war mir als 14-Jähriger natürlich noch nicht bewusst. Ein halbes Jahr später hat sich das geändert, weil ich mich schon im ersten freien Wahlkampf für die Volkskammer im März 1990 engagierte. Ich erinnere mich an eine Kundgebung der „Allianz für Deutschland" Anfang 1990 auf dem Markt in Chemnitz, zu der mehr als 100.000 Teilnehmer kamen. Das werde ich nie vergessen.

Geld macht sinnlich: Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) hält in einer Filiale der Deutschen Bank am Alexanderplatz in Berlin-Mitte in der Nacht der Währungsunion einen 100-DM-Schein in die Höhe. 
Geld macht sinnlich: Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) hält in einer Filiale der Deutschen Bank am Alexanderplatz in Berlin-Mitte in der Nacht der Währungsunion einen 100-DM-Schein in die Höhe. 
© picture-alliance/ ZB

Herr Waigel, die Währungsunion hat vielen Ostdeutschen einen Traum erfüllt, bald aber Massenarbeitslosigkeit gebracht. Was wurde damals falsch gemacht – und hätte es rückblickend eine andere Einheit geben können?
Waigel: Ich glaube auch mit dem Abstand von 30 Jahren: Wir haben das Meiste richtig gemacht. Wir haben schon vor dem Fall der Mauer im Bundesfinanzministerium Überlegungen angestellt, wie es in der DDR zu einem wirtschaftlichen Aufschwung kommen konnte. Natürlich wäre ein Stufenplan von acht Jahren für eine Wirtschafts- und Währungsunion sinnvoll gewesen. Aber wir haben sehr schnell erkannt, dass wir nur ein kurzes Zeitfenster unter Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow hatten, dessen Mandat auslief. Dazu kommt: Wenn die DDR sich hätte aus sich selbst reformieren müssen, hätte das für die Ostdeutschen massive Einschnitte bedeutet.
Woran machen Sie das fest?

Waigel: Gerhard Schürer, Chefökonom der DDR, hatte schon ein Jahr vor dem Mauerfall gewarnt, dass die DDR spätestens 1991 pleite sein würde. Sie konnte ihre Verbindlichkeiten nicht mehr erfüllen – trotz der billigen Energielieferungen aus der Sowjetunion. Die DDR war auf westliche Kapitalhilfe angewiesen. Die SED hätte laut Schürer den Lebensstandard ihrer Bürger um 25 bis 30 Prozent senken müssen, um den Kapitalmarkt weiter bedienen zu können. Die DDR stand ökonomisch vor dem Kollaps, deshalb mussten wir schnell handeln. Die Wirtschafts- und Währungsunion war richtig, war notwendig, und hätte zu keinem anderen Zeitpunkt eine so große Wirkung entfaltet.
Herr Wanderwitz, als ostdeutscher Politiker müssen Sie heute mit Stimmungen umgehen, die anders sind als im Westen. Millionen Jobs gingen verloren, Firmen gingen Konkurs, soziale Zusammenhänge wurden aufgelöst, Leben entwertet. Hat die Stärke der AfD in den neuen Ländern auch mit der Wirtschafts- und Währungsunion zu tun?
Wanderwitz: Es ist so, wie Theo Waigel gesagt hat. Entgegen allen Mythen war die DDR 1989 keine führende Industrienation, sondern ein runtergewirtschaftetes Land. Wenn wir die Wiedervereinigung nicht erreicht hätten, wären die Transformationsprozesse noch viel dramatischer abgelaufen, wie man in Ost- und Südosteuropa sehen kann. Dort waren die Einschnitte viel tiefer, weil es keine Transfer- und Solidarleistungen gab, die den Übergang abmilderten. Es hat mit diesen Transformationsprozessen zu tun, warum ein Teil der Bevölkerung in den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes sich schwertut, in der neuen Zeit anzukommen.
Also doch Kritik an der Währungsunion?
Wanderwitz: Nein. Daran sind nicht die damals getroffenen Entscheidungen schuld, denn die Wirtschafts- und Währungsunion war notwendig und richtig. Womöglich hat man zu sehr darauf vertraut, dass die Ostdeutschen, die drei Generationen in Diktaturen gelebt und eine friedliche Revolution bewerkstelligt hatten, automatisch Demokraten werden, wenn man ihnen das Grundgesetz und die soziale Marktwirtschaft schenkt. Wir hätten mehr in politische Bildung investieren und besser erklären müssen.

Allein bessere Erklärung hätte die Erfahrung der Massenarbeitslosigkeit kompensiert, glauben Sie?
Waigel: Da muss ich auch etwas sagen: Wir haben versäumt, den Menschen unmissverständlich zu erklären, wie katastrophal der Zustand der DDR nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft war. Womöglich sind wir davor zurückgeschreckt, weil wir ihnen die ganze, bittere Wahrheit ersparen wollten. Die Auslandsverschuldung der DDR betrug damals etwa 26 Milliarden Dollar. Die versteckte Inlandsverschuldung betrug mehr als 150 Milliarden Ostmark. Umgerechnet war jeder DDR-Bürger mit 7000 D-Mark verschuldet.

Ein Erfolg, mit Händen zu greifen: Marco Wanderwitz (CDU), heute Ostbeauftragter der Bundesregierung und Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, war 1990 14 Jahre alt.
Ein Erfolg, mit Händen zu greifen: Marco Wanderwitz (CDU), heute Ostbeauftragter der Bundesregierung und Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, war 1990 14 Jahre alt.
© Stefan Weger/Tagesspiegel

Und die Massenarbeitslosigkeit ließ sich nicht verhindern?
Waigel: Doch, die hätten man verhindern können, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Löhne in der DDR der Produktivität ihrer Wirtschaft entsprochen hätten. Danach hätten die DDR-Bürger etwa ein Drittel eines Westlohns verdienen dürfen. Wer einen Massenexodus aus der DDR nach Westdeutschland hätte verhindern wollen, hätte die Mauer wieder dichtmachten müssen. Unter den Bedingungen, die wir vorfanden, haben wir die richtige Entscheidung getroffen.
Wanderwitz: Das sehe ich auch so. Aus 30 Jahren Entfernung kann man die eine oder andere Nuance anders sehen. Aber im Grundsatz war es die bestmögliche Entscheidung. Die alte Bundesrepublik hat gigantische Summen aufgebracht, um die Einheit zu stemmen. Ich möchte nur daran erinnern, dass an manchen Stammtischen etwa in Nordrhein-Westfalen deshalb dagegen schnell massiv Stimmung gemacht wurde….
Waigel: An manchen Stammtischen in Bayern auch….

Herr Waigel, Würden Sie auch die Finanzierung der Einheit vor allem durch die Belastung von Sozialbeiträgen wiederholen, die zu Lasten von abhängig Beschäftigten ging?
Waigel: Das ist nicht die ganze Wahrheit. Wir haben einen Finanzierungsmix aus drei Säulen gewählt. Wir haben mehr als 100 Milliarden D-Mark aus dem Haushalt eingespart. Das zweite war eine Kreditaufnahme. Das betrachte ich als eine der größten Ungerechtigkeiten, die mir widerfahren sind. Für die Finanzierung der deutschen Einheit musste ich Zinssätze von 8,75 bis neun Prozent zahlen. Und heute bekommt der deutsche Finanzminister das Geld nachgeschmissen. Das Dritte waren Abgaben- und Steuererhöhungen. Dieser Finanzierungsmix war nicht in jedem Jahr perfekt, war aber insgesamt richtig. Bedenken Sie, dass wir auch noch die Verschuldungskriterien von Maastricht einhalten mussten. Das ist uns auch noch gelungen.

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Wie groß waren die Gesamtkosten der Einheit?
Waigel: Nach 30 Jahren haben wir dafür brutto mehr als zwei Billionen und netto etwa eineinhalb Billionen Euro ausgegeben. Das sind 1500 bis 2500 Milliarden Euro. Trotzdem ist es uns gelungen, wirtschaftlich heute stärker dazustehen als alle um uns herum und Europa stark zu halten. Dann ist das eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Auch wenn man sich andere Daten für Ostdeutschland anschaut, etwa verfügbare Einkommen, Zufriedenheit mit der eigenen Situation, kann ich nur eine positive Bilanz ziehen.
Herr Wanderwitz: Polen, Tschechen, Ungarn und andere Nachfolgestaaten kommunistischer Länder haben den Übergang in die Marktwirtschaft ohne milliardenschwere Hilfen geschafft. Sind die Ostdeutschen undankbar?
Wanderwitz: Halten wir doch einmal fest: Auch dank der Hilfen aus dem Westen geht es heute den neuen Ländern besser als unseren Nachbarn in Polen, Tschechien oder Rumänien, obwohl die Unterschiede zwischen diesen Ländern 1989 viel geringer waren als heute. Ich sage Ihnen ganz offen, ich werde nicht müde, meinen Landsleuten zu sagen: Es stünde uns gut an, wenn wir einmal mehr Danke sagen würden. Das würde auch die Bereitschaft zu weiteren Transferleistungen in den alten Bundesländern erhöhen.

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Auch im Konjunkturpaket zur Bekämpfung der Corona-Folgen wurde eigens an die neuen Länder gedacht, Herr Wanderwitz. Wie?
Wanderwitz: Der Bund hat seinen Anteil um zehn Prozentpunkte erhöht, die er den neuen Ländern bei der Finanzierungslast für das ehemalige Rentensystem der DDR abnimmt. Das war der Kanzlerin, den Ministerpräsidenten der neuen Länder und mir wichtig. Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung zahlt der Bund dafür 390 Millionen Euro P.A. mehr – ein weiterer West-Ost-Transfer. Ich finde, man kann durchaus dankbar sein, dass so etwas noch immer möglich ist.
Waigel: Dankbarkeit kann man nicht einfordern, nicht einmal in der eigenen Familie. Aber persönlich kann ich Ihnen sagen: Wenn mich Leute erkennen, höre ich immer wieder Dank dafür, was wir damals bei der Einheit geleistet haben.

Das Thema Treuhand bewegt die Ostdeutschen auch nach 30 Jahren noch. Linkspartei und AfD fordern einen Untersuchungsausschuss des Bundestages. Eine gute Idee?
Waigel: Ich habe vor einem Treuhand-Untersuchungsausschuss keine Angst. Ich habe in meiner politischen Karriere so viele Untersuchungsausschüsse überlebt, dass sich da ganz gelassen bin. Darunter waren auch zwei U-Ausschüsse zur Treuhand. In einem hat mich der Ausschussvorsitzende Otto Schily acht Stunden lang gegrillt, aber er hat auch nichts Kompromittierendes gefunden. Im Moment schreibt das wissenschaftlich höchst angesehene und unabhängige Institut für Zeitgeschichte eine mehrbändige Untersuchung zur Treuhand. Ich würde empfehlen, auf dieses Werk zu warten, denn ich bin ganz sicher: Von den vielen Mythen, die über die Treuhand-Anstalt verbreitet werden, wird dann nicht viel übrigbleiben.

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