zum Hauptinhalt
Präsident Ruhani gehört innerhalb des iranischen Establishments zu den Warnern.
© Ebrahim Seydi/Iranian Presidency/dpa

Zweite Corona-Welle im Iran: Vom Regime in die Irre geführt

Die Pandemie wütet im Iran offenbar viel schlimmer, als es die Behörden zugeben. Fürchtet das Regime die Wut des Volkes?

Es gibt zwar Warnungen, eine Maskenpflicht und Bußgeldrohungen. Die offizielle Botschaft lautet dennoch: Wir haben die Lage im Griff. Doch das Coronavirus wütet im Iran offenbar viel schlimmer als offiziell zugegeben.

Der britischen BBC zufolge zeigen iranische Regierungsunterlagen, dass bis Ende Juli rund 42.000 Menschen an der Lungenkrankheit Covid-19 starben, fast drei mal so viel wie in den amtlichen Statistiken angegeben. Auch Amnesty International und die Exilopposition schlagen Alarm.

Die Enthüllungen untermauern den Vorwurf, dass die Behörden die Öffentlichkeit in dem am schwersten betroffenen Land im Nahen Osten seit Monaten bewusst in die Irre führen.

Zwar sprechen auch die Behörden von einer besorgniserregenden Lage. Seit Ende Juni werde in der heiligen Stadt Qom, dem Ursprungsort der iranischen Corona-Welle, ein erneuter Anstieg der täglichen Infektionszahlen verzeichnet, sagte die Sprecherin des Gesundheitsministeriums in Teheran, Sima Sadat Lari.

Massenhafte Verstöße gegen die Hygieneregeln seien schuld an der Entwicklung, sagte die Sprecherin. Doch Qom ist kein Einzelfall. In 25 der 31 Provinzen des Landes gebe es Anlass zur Sorge, fügte Lari hinzu.

Schon die offiziellen Zahlen legen nahe, dass die Islamische Republik die zweite Corona-Welle nicht in den Griff bekommt. Rund 315.000 Fälle und fast 17.600 Todesfälle meldet der Iran mit seinen 80 Millionen Bewohnern. Doch die offizielle Bilanz spiegelt der BBC zufolge nicht die bittere Wahrheit.

Auf Nummer sicher. Vor dem Moscheebesuch wird bei einer Iranerin die Temperatur gemessen.
Auf Nummer sicher. Vor dem Moscheebesuch wird bei einer Iranerin die Temperatur gemessen.
© AFP

Der Sender meldete am Montag, ihm seien iranische Regierungsdokumente zugespielt worden. Aus den Unterlagen geht demnach hervor, dass das Regime seit Jahresbeginn genau weiß, wie katastrophal die Situation ist, in ihren veröffentlichten Zahlen aber eine vergleichsweise rosige Lagebeschreibung verbreitet.

So trat der erste Corona-Fall im Iran dem Bericht zufolge Ende Januar auf – und nicht erst einen Monat später, wie Teheran behauptet. Als die Regierung im Februar die erste Infektion meldete, waren offenbar mehr als 50 Menschen bereits an Covid-19 gestorben. Maßnahmen zur Verhinderung von Ansteckungen gab es damals nicht.

Amnesty warnt vor verheerenden Zuständen in Gefängnissen

Bis zum 20. Juli infizierten sich laut BBC mehr als 450.000 Menschen – nach offiziellen Zahlen sollen es bis zu diesem Tag knapp 280.000 gewesen sein.

Besonders gefährlich ist die Lage nach Angaben von Amnesty International in den Haftanstalten. Die Organisation zitierte jüngst aus vertraulichen Schreiben der Gefängnisbehörde an das Gesundheitsministerium, in denen ein Mangel an Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln beklagt werde. Das Ministerium ignoriere die Hilferufe, so Amnesty. Die Exil Oppositionsgruppe NCRI will sogar mehr als 80.000 Corona-Tote gezählt haben.

Mitarbeiter in Krankenhäusern widersprechen den offiziellen Angaben

Bereits bei Ausbruch der Pandemie in den ersten Monaten des Jahres sahen sich die Behörden der Islamischen Republik dem Vorwurf ausgesetzt, die Wahrheit über die Verbreitung der Krankheit zu beschönigen. Berichte von Politikern aus ihren Wahlkreisen und örtliche Krankenhausangaben widersprachen den offiziellen Statistiken.

Nach ersten Beschränkungen ordnete Präsident Hassan Ruhani bereits im April eine schrittweise Öffnung der Wirtschaft an, weil sich das Land, das wegen US-Sanktionen ohnehin stark unter Druck ist, keine weiteren Verzögerungen leisten könne.

Seit Ende Mai steigt die Zahl der Corona-Todesopfer wieder an. Der BBC zufolge blieben die offiziellen Angaben allerdings konsequent weit unter der tatsächlichen Zahl der Toten.

Es wäre nicht das erste Mal, dass die Behörden versuchen, Unangenehmes zu verheimlichen. Die Führung hatte zum Beispiel nach dem Abschuss einer ukrainischen Verkehrsmaschine durch die Revolutionsgarde versucht, die Wahrheit zu vertuschen.

Beim Abschuss der ukrainischen Maschine kamen alle 176 Passagiere ums Leben.
Beim Abschuss der ukrainischen Maschine kamen alle 176 Passagiere ums Leben.
© Nazanin Tabatabaee/Wana/Reuters

Am 8. Januar war die Boing kurz nach dem Start in Teheran von der iranischen Luftabwehr – die wegen des Konflikts mit den USA in höchster Alarmbereitschaft war – attackiert worden. Alle 176 Passagiere starben. Das Regime stritt anfangs ab, etwas mit dem Vorfall zu tun zu haben, sprach von einem technischen Defekt.

Erst einige Tagen später gab es das Eingeständnis, man habe das Flugzeug versehentlich abgeschossen. In mehreren iranischen Städten gab es daraufhin heftige Proteste wegen der Lügen des Regimes.

Das Regime fürchtet womöglich neue Unruhen

Das scheint sich nun zu wiederholen. Die Gesundheitsbehörden würden von den Sicherheitskräften gezwungen, das wahre Ausmaß der Pandemie zu verschleiern, sagte eine iranische Ärztin. Möglicherweise befürchten Polizei, Armee, Geheimdienste und die Revolutionsgarde neue Unruhen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt.

Das Regime wurde in den vergangenen Monaten mehrmals durch Massenproteste gegen die Wirtschaftskrise, die schlechten Lebensbedingungen und die Herrschaft der Mullahs erschüttert.

Zur Startseite