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Martin Schulz (SPD), von 2012 bis 2017 Präsident des Europaparlaments
© Mike Wolff

Martin Schulz über Europa in Corona-Zeiten: „Vielleicht heißen sie am Ende Merkel-Bonds“

Der frühere Europaparlaments-Präsident Martin Schulz über Fehler im Umgang mit Italien und die Niederlande an der Spitze der Blockierer.

Herr Schulz, Sie waren kurz vor dem Corona-Ausbruch bei mehreren Ministern und Regierungschef Conte zu Besuch, was hat das anfängliche deutsche Exportverbot von Medizinmaterial an Italien dort angerichtet?
Ich glaube, dass diese Reaktion nach dem Motto: "Nee, das brauchen wir jetzt selbst", gewaltigen Schaden angerichtet hat. Aber man kann diesen Schaden beheben, indem man einer so sehr proeuropäischen Bevölkerung wie der italienischen auch mal ganz offiziell sagt: Nicht alles, was hier gelaufen ist, war richtig. Aber langfristig könnt Ihr euch auf uns verlassen.

Stichwort Solidarität und Finanzhilfen, damit der Binnenmarkt nicht kollabiert. Wer schadet Europa gerade am meisten?
Ich erwarte nicht von Rechtspopulisten wie Matteo Salvini oder Viktor Orbán, dass sie sich für die europäische Idee engagieren. Aber von Regierungen, die für sich reklamieren, dass sie pro-europäisch sind, wie die Regierung in den Niederlanden. Man darf nicht aus innenpolitischen Erwägungen das Prinzip der Solidarität in Europa in Frage stellen, sonst wird man zum Totengräber Europas. Und das tut die Regierung in Den Haag, wenn sie zum Beispiel Corona-Bonds, also zeitlich befristete gemeinsame Anleihen, kategorisch ablehnt. Wenn ich mir die Protokolle anschaue und das, was mir berichtet worden ist, kann ich nur schlussfolgern: Die Regierung in Den Haag hat sich in einer nie dagewesenen Weise an die Spitze der Blockierer gesetzt.

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Moment mal, Angela Merkel will aber auch keine Coronabonds
Wir sehen doch Bewegung von Frau Merkel in Richtung gemeinsame Anleihen nach Artikel 122 des EU-Vertrages. Das ist der Weg hin zu Coronabonds. Und wahrscheinlich wird es Angela Merkel am Ende wieder gelingen die Umsetzung von etwas, gegen das sie Jahre gekämpft hat, als eigenen Erfolg zu vereinnahmen. So wie ich sie kenne, werden sie dann am Ende auch nicht mehr Corona-Bonds heißen, sondern vielleicht Merkel-Bonds (lacht). Aber sei's drum. Wenn dies zu pragmatischen Ergebnissen führt und, dass Währungsspekulationen gegen den Euro verhindert werden, weil die Euro-Staaten sagen "ihr kriegt uns nicht auseinanderdividiert", dann wäre das ein echter Fortschritt. Und Frau Merkel fordert jetzt sogar, was ich schon seit einer Ewigkeit fordere: einen größeren EU-Haushalt.

Die praktische Solidarität bedeutet für Leute wie Viktor Orbán gerade aber eher, Geld in Brüssel abzugreifen und zu Hause das Parlament auszuschalten. Fürchten Sie nicht, dass diese Krise die Europäische Union am Ende von innen aushöhlen wird?
Ich halte nichts von diesen apokalyptischen Szenarien. Ich glaube, dass wir zwei Dinge erleben werden. Erstens: Funktionierende Staaten mit funktionierenden Institutionen gewinnen an Vertrauen. Populisten, die dicke Worte im Munde führen, aber keine Leistungen erbringen für ihre Bürgerinnen und Bürger, verlieren dagegen an Vertrauen. Trump lässt grüßen. Das wird in Europa nicht anders sein. Die wirklich seriösen Staaten sind zurzeit auch die starken Staaten. Die weltweite Pandemie wird dazu führen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika als Führungskraft ausfallen. So kann in der Krise eine Chance liegen, dass Europa auch ein Gewinner wird, wenn es sich zusammenreißt.

Martin Schulz war Mitte Januar vor Ausbruch der Corona-Krise zuletzt in Rom - und wurde auch von Papst Franziskus empfangen.
Martin Schulz war Mitte Januar vor Ausbruch der Corona-Krise zuletzt in Rom - und wurde auch von Papst Franziskus empfangen.
© imago images/Independent Photo Agency Int.

Das hört sich wieder nach dem ewigen Visionär an, der von den Vereinigten Staaten von Europa träumt.
Träume können auch eine Richtung vorgeben, die man in der Realität verfolgt. Ganz praktisch setze ich auf eine Renaissance des Multilateralismus und denke, dass wir in den nächsten Jahren eher ein Pragmatiker-Europa als ein Euphoriker-Europa sehen werden. Das ist nichts Negatives. Eine neue praktische und funktionierende europäische Solidarität könnte vielleicht schneller zu einer Art Vereinigter Staaten von Europa führen, als sich Euphoriker das jemals erhofft haben.

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Das bräuchte es aber auch eine starke Kommissionschefin.
Ich glaube, dass man Frau von der Leyen in einem Punkt in Schutz nehmen muss: In der öffentlichen Gesundheitsvorsorge hat die Europäische Union keine eigenen Kompetenzen. Das ist klassische nationalstaatliche Aufgabe, und es war nicht die Kommission, die die Grenzen ohne Konsultation mit den anderen Staaten geschlossen hat, sondern die nationalen Regierungen. Aber die Kritik, die ich an Frau von der Leyen teilen würde ist, dass sie zu leise ist. Die Antwort auf diese Pandemie darf nicht die Renationalisierung, sondern muss die europaweite und globale Bekämpfung sein. Sie müsste sich viel stärker dieser Auseinandersetzung stellen, nach dem Motto: Ich lasse mich nicht in eine Verantwortung nehmen für Dinge, die nationale Regierungen ohne Absprache mit uns alleine treffen.

Ihr Optimismus in Ehren, aber von mehr Europa ist gerade nicht viel zu sehen, werden China und Russland nicht versuchen, die Schwäche des Westens gnadenlos auszunutzen?
Nein, das glaube ich nicht. Diesen Untergangsszenarien kann ich nichts abgewinnen. Eins ist doch klar: Von alleine werden sich die Dinge nicht regeln. Wir haben nur diese Welt, und wir haben in dieser Welt und nur dieses eine Europa und kein anderes. Und dieses Europa ist eine große Errungenschaft! Die überwältigende Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union wird von seriösen Politikerinnen und Politikern geführt, eben nicht von den Kaczynskis und Orbans. Die haben nicht die Mehrheit. Nur müssen sich diese seriösen Politikerinnen und Politiker durch die gemeinsame Bewältigung der Krise endlich zusammenraufen. Es hängt entscheidend davon ab, ob die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich gemeinsam die nötigen Wege gehen, Europa zusammenzuhalten.

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