Schiffbruch vor der libyschen Küste: Vermutlich 110 Flüchtlinge ertrunken
Erneut ein schweres Unglück vor der libyschen Küste - Europa bleibt leise und Italien verweigert erneut auch der eigenen Küstenwache das Anlegen mit Migranten.
Der jüngste Schiffbruch eines mit Flüchtlingen überfüllten Boots im Mittelmeer hat international Entsetzen ausgelöst, allerdings bisher kaum Reaktionen in den europäsichen Hauptstädten. UN-Generalsekretär António Guterres, der selbst bis 2015 Chef des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen war, äußerte sich „entsetzt“ über die Berichte vom Tod von vermutlich mehr 110 Menschen vor der libyschen Küste. „Wir brauchen sichere und legale Routen für Migranten und Flüchtende“, erklärte er. In einer gemeinsamen Stellungnahme betonten die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und die für Nachbarschaftspolitik und Migration zuständigen Kommissare Johannes Hahn und Dimitris Avramopoulos, es brauche „dringend vorhersehbare und nachhaltige Lösungen für die Seenotrettung im Mittelmeer“. „Jedes verlorene Leben ist eines zu viel.“
Nach Angaben der libyschen Vertretung der UN-Migrationsagentur IOM (International Organization for Migration), die die Überlebenden sprechen konnten, hatten sich mit dem Holzboot etwa 250 Menschen, Männer, Frauen und Kinder auf den Weg gemacht. Sollten sich die Zahlen bestätigen, wäre dieses jüngste Unglück das schwerste, der Zahl der Toten nach, im Mittelmeer in diesem Jahr.
Küstenwache"bewaffneter Arm der Sklavenhändler"?
Die meisten Passagiere des Boots kamen nach IOM-Angaben aus Eritrea und Sudan. Es kenterte demnach nach einem Maschinenschaden auf Höhe der Region Khums im Nordwesten Libyens. Die sich retten konnten – teils selbst zurück an Land schwimmend, teils auf Schiffe der libyschen Küstenwache – sollen jetzt in Internierungslager in Libyen zurückgebracht werden.
Diese Lager allerdings sind berüchtigt. Seit Jahren gibt es Berichte über Folter, Zwangsarbeit, Vergewaltigungen und Versklavung der dort festgehaltenen Menschen – die meisten stammen aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara – , unter anderem von einer UN-Kommission und einer Mission von Ärzte ohne Grenzen. In einem internen Bericht deutscher Diplomaten ans Auswärtige Amt war von KZ-ähnlichen Zuständen die Rede. Vor zwei Jahren recherchierte eine Reporterin des US-Senders CNN auf einem der libyschen Sklavenmärkte.
Zudem gibt es den Verdacht, dass die von der EU ausgerüstete libysche Küstenwache von Gewalt und Menschenhandel dort ebenfalls profitiere und mit den Lagerautoritäten verbandelt sei. Vor zwei Jahren stellte ein italienischer Admiral die Frage, ob jene Küstenwache, der man da Motorboote überlasse, nicht tatsächlich „der bewaffnete Arm der Sklavenhändler“ sei. Die Küstenwache, von der private Seenotretter im Mittelmeer immer wieder berichten, sie sei meist unerreichbar, hat, unterstützt von der EU, erst seit kurzem eine eigene Zuständigkeitszone für Seenotrettung (SAR) vor ihrer Küste erhalten.
UN: Libyens Bürgerkrieg macht Lage der Flüchtlinge noch schlimmer
Zuvor war dies Sache der in Rom ansässigen Koordinierungsstelle fürs zentrale Mittelmeer. Erst Anfang der Woche hatten IOM-Generalsekretär António Vitorino und der Chef des UNHCR, Filippo Grandi, in Paris am informellen Treffen der EU-Innen- und Außenminister zum Thema private Seenotrettung teilgenommen und die Versammlung gemahnt: „Im Lichte des Risikos, dort missbraucht, misshandelt oder getötet zu werden, sollte niemand, der auf See abgefangen oder gerettet wurde, in Internierungslager in Libyen gebracht werden.“ Die Gewalt durch den wiederaufgeflammten Bürgerkrieg in Libyen in den letzten Wochen habe „die Situation verzweifelter denn je“ werden lassen und die Notwendigkeit zu handeln „dringend“.
Im Fall der Überlebenden des jüngsten Unglücks sieht es allerdings nach dem üblichen Verfahren aus. IOM Libyen informierte am Freitagmorgen, dass 84 der 87 Überlebenden in Tripoli an Land gebracht worden seien, 84 von ihnen seien auf dem Weg ins Lager von Tajoura. Eben dieses Lager war Anfang des Monats im Zuge des Kampfes der großen verfeindeten libyschen Milizen bombardiert worden; dabei kamen mindestens 44 Menschen ums Leben. Die meisten waren Augenzeugenberichten zufolge Frauen und Kinder, da das Geschoss in dem Teil der Lagerhalle einschlug, in dem sie untergebracht waren.
Rom erlässt weiteres und schärferes Gesetz
Beim EU-Ministertreffen in Paris diese Woche war allerdings vor allem von der Verteilung Geretteter die Rede, die private Seenothilfeschiffe aufnehmen. Auch hier gab es es keine Einigung, sie soll nun im September erfolgen. Italien und Malta halten ihre Häfen für solche Schiffe aktuell geschlossen. Das Ziel ist jetzt, eine Koalition hilfswilliger EU-Mitglieder zustandezubringen, die die Menschen sofort verteilen. Nach Angaben des französischen Staatspräsidenten Macron haben sich 14 der noch 28 EU-Länder dazu grundsätzlich bereit erklärt – wobei die Probleme in den Details liegen dürften. So saßen Gerettete trotz Aufnahmezusagen schon wochenlang auf Malta fest.
Italiens rechte Regierung verschärft gerade das Vorgehen gegen private Seenotrettung weiter: Dem neuesten Gesetzentwurf nach, der gerade im parlamentarischen Verfahren ist, drohen ihnen Millionenstrafen, wenn sie in italienische Hoheitsgewässer einfahren – das hatte Ende Juni die deutsche Kapitänin Carola Rackete getan – und ihre Schiffe sollen beschlagnahmt werden. Auch am Freitag zeigte sich Italiens rechtsradikaler Innenminister Matteo Salvini unbeeindruckt und verweigerte einem Schiff der italienischen Küstenwache mit 135 Migranten an Bord weiter die Einfahrt in einen italienischen Hafen.
Brief an Leyen: Zwischen Schleppern und Helferinnen unterscheiden
Die Regierung in Rom habe die EU-Kommission "offiziell darum gebeten, die Verteilung der Migranten an Bord zu koordinieren", hieß es aus Kreisen des Innenministeriums. Bevor es dazu kommt, soll das Schiff nicht in Italien anlanden dürfen. Die 135 Menschen sitzen seit Donnerstag auf dem Rettungsschiff der Küstenwache fest - und sollen nach dem Willen Roms so lange warten, bis die EU-Kommission auf die offizielle Anfrage antwortet.
102 Organisationen wandten sich am Freitag gegen die Kriminalisierung von Solidarität mit Migranten. Von der künftigen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderten sie in Brüssel eine Reform der EU-Richtlinie, die Beihilfe zu unerlaubter Einreise definiert. Bisher werde nicht exakt zwischen Menschenschmuggel und humanitärer Hilfe unterschieden.