zum Hauptinhalt
Die Erleichterung ist ihr anzusehen: Ursula von der Leyen nach der Verkündung des Wahlergebnisses im Europaparlament.
© Frederick Florian/AFP

Von der Leyen wird Kommissionschefin: So lief der historische Tag in Straßburg

Sie macht Angebote an ihre Gegner. Am Ende wird Ursula von der Leyen dennoch nur knapp als Kommissionschefin gewählt. Chronik eines denkwürdigen Tages.

Als Ursula von der Leyen um 19.32 Uhr wieder den Saal des Europaparlaments in Straßburg betritt, lächelt sie. Applaus brandet auf, die Nachricht hat sich da bereits verbreitet. Sie hat es geschafft. Als Parlamentspräsident David Sassoli das Ergebnis verkündet, legt sie die Hand aufs Herz. Und atmet tief durch.

Es war knapp, sehr knapp. 383 Ja-Stimmen, 374 brauchte sie für die absolute Mehrheit. Rückenwind für Amt der Kommissionspräsidentin sieht anders aus - doch so wie es aussieht, hat sie ein weiteres Ziel erreicht: Sie ist vor allem mit Stimmen der Christdemokraten, Liberalen und Sozialdemokraten gewählt worden, die Rechtskonservativen hatte sie mit ihrer Bewerbungsrede dagegen vergrätzt.

„Das ist eine große Ehre“, sagt von der Leyen in einer ersten Reaktion. „Dieses Vertrauen ist ein Vertrauen in ein starkes, geeintes Europa.“ Ausgerechnet AfD-Chef Jörg Meuthen, Vizechef der rechtspopulistischen Fraktion, ist einer der ersten Gratulanten, er will hier schnell weg. Von der Leyen hatte ihm bei ihrer Befragung ein paar Stunden zuvor gesagt: „Ich bin geradezu erleichtert, dass ich von Ihnen keine Stimme bekomme.“ Und dann grinst plötzlich vor ihr mit braunem Teint Silvio Berlusconi. Der frühere italienische Premier, 82 Jahre alt, ist mit seiner Forza Italia als Europaabgeordneter Teil der konservativen Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch CDU/CSU gehören. Von der Leyen bekennt nach dieser Zitterpartie: „Das waren definitiv die intensivsten zwei Wochen meines politischen Lebens.“

Dieser 16. Juli 2019 ist ein historischer Tag. Und für die wichtigste Rede ihres Lebens wirkt Ursula von der Leyen am Morgen dieses Tages geradezu gelöst. Sie knipst ihr schönstes Lächeln an, begrüßt per Handschlag die Chefs auch der Fraktionen, die ihr die Stimme verweigern wollen. Im Hintergrund die blaue Europafahne mit den gelben Sternen, nimmt sie um kurz nach neun Platz im Straßburger Europaparlament. Es ist ein Tag, in dessen Verlauf einige ihre Meinung ändern werden.

Sie beginnt um 9.08 Uhr auf Französisch, erinnert an die erste Frau an der Spitze dieses Parlaments: die französische Holocaust-Überlebende Simone Veil vor 40 Jahren. Eine Frau an der Spitze der EU-Kommission, also an der Spitze der Regierung Europas, gab es noch nie. Und der letzte Deutsche in dem Amt war Walter Hallstein (CDU), der von 1958 bis 1967 amtierte. Er war zuvor Namensgeber der Hallstein-Doktrin, wonach die Bundesrepublik allen Staaten, die die DDR anerkannten, mit dem Abbruch der Beziehungen drohte.

Ein kluger Schachzug: Vorher als Ministerin zurückzutreten

Ursula von der Leyen geht es um Auf- statt Abbruch. Sie umarmt die Mitte des Parlaments mit Angeboten an Liberale, Grüne und Sozialdemokraten. Sie redet auch auf deutsch, dann auf englisch. Mit Pathos und Leidenschaft. Sie hat vorab ihren Rücktritt als deutsche Verteidigungsministerin angekündigt, um klarzumachen, hier steht keine Frau, die, wenn es schiefgeht, mit dem Rückfahrticket halt zurück in das alte Amt fährt.

Das war ein kluger Schachzug, auch ein logischer. Der Verdruss im Ministerium war zuletzt groß, die von ihr angeheuerte Beratertruppe hatte ein Eigenleben entwickelt, das den Steuerzahler viel Geld kostete. Und seit sie den Soldaten ein generelles Haltungsproblem attestiert hatte, war die Beziehung ohnehin erkaltet. Sie setzt alles auf die Karte Brüssel – und hinterlässt in Berlin eine Baustelle.

Es wirkt fast wie eine Befreiung, in Brüssel ist sie geboren, immer wieder streut sie in der Rede Gespräche mit ihrem Vater über Europa ein. Es schließt sich fast ein Kreis. Ernst Albrecht war 1958 unter Hallstein Kabinettschef des Kommissars Hans von der Groeben, in jenem Jahr kam seine Tochter Ursula zur Welt. Am Ende seines Lebens habe er Europa mal so definiert, erzählt von der Leyen den Abgeordneten: Das sei wie eine lange Ehe. „Die Liebe wird vielleicht nicht größer, aber sie wird tiefer.“ Man lernt zu streiten und sich wieder zu versöhnen. Sie wolle das große Friedensprojekt Europa in schwieriger Zeit einen und stärken.

Immer im Blickfeld hat sie der mürrisch dreinblickende AfD-Chef Meuthen. Auch an seine Adresse sagt die 60-Jährige: „Wer Europa schwächen und spalten will (...), der findet in mir eine erbitterte Gegnerin.“ Lauter Applaus. Welche Gräben durch Europa verlaufen, aber auch was gelebte Demokratie ist, dafür bieten diese Rede und die anschließend mehrstündige Befragung der Kandidatin Anschauungsunterricht. Für die CDU-Politikerin gilt es, mindestens 374 Abgeordnete auf ihre Seite zu ziehen. Daher versucht von der Leyen in ihrer 33-minütigen Bewerbungsrede möglichst vielen Fraktionen etwas anzubieten.

Europa soll erster klimaneutraler Kontinent werden

Als Erstes wirbt sie für eine Art „Green Deal“. „Ich möchte, dass Europa der erste klimaneutrale Kontinent weltweit wird, und zwar bis 2050.“ Langfristziele haben immer den Vorteil, dass man da selbst nicht mehr im Amt ist. Die Grünen kann sie nicht überzeugen.

Dann umwirbt sie die Sozialdemokraten. „Die Wirtschaft muss den Menschen dienen.“ Sie will europaweite Mindestlöhne, die Jugendarbeitslosigkeit im Süden bekämpfen. Und „als Mutter von sieben Kindern“ kämpfe sie dafür, dass kein Kind zurückgelassen wird, dass es Zugang zu Bildung, Sport und gutem Essen gibt. Und sie fordert: Mehr Frauen an die Macht. Seit 1958 habe es 183 EU-Kommissare gegeben, aber „nur 35 davon waren Frauen“. Sie will eine 50:50-Besetzung von Männern und Frauen in der neuen EU-Kommission. „Wir machen die Hälfte der Bevölkerung aus, wir wollen unseren fairen Anteil.“ Wenn die Mitgliedsstaaten nicht genügend Kommissarinnen vorschlügen, werde sie nicht zögern, „neue Namen zu verlangen“. In der Migrationspolitik kritoisiert sie, das Mittelmeer sei zu einer der tödlichsten Grenzen weltweit geworden. An alle Kritiker der Seenotrettung gerichtet sagt sie: „Es gibt die Pflicht, menschliches Leben zu retten.“

Als sie das Wort Brexit nur erwähnt, johlen die Abgeordneten der Brexit-Partei von Nigel Farage laut auf und klopfen auf ihre Pulte. Auf denen stehen kleine britische Fahnen. Dieses Mal wenden sie den anderen Abgeordneten nicht den Rücken zu, wie bei der Eröffnungssitzung nach der Europawahl, als die Ode an die Freude, die Europahymne, gespielt wurde.Farage hält ihr später bei der Befragung vor, sie wolle in alle Lebensbereiche hineinregieren. Das sei ja wie im Kommunismus. „Gott sei Dank, dass wir ausscheiden.“ Den skurrilsten Auftritt hat Nico Semsrott, Komiker und Abgeordneter der „Partei“: Er zieht seinen schwarzen Kapuzenpulli aus, darunter noch ein Pullover, vollgeklebt mit den Logos von Beraterfirmen – eine Anspielung auf von der Leyens Affäre um undurchsichtige Berateraufträge zur Optimierung der Bundeswehr. Er zieht dann noch eine gelbe Plastikbrille auf, darauf lilafarbene McKinsey-Aufkleber. Er fordert die „Offenlegung der finanziellen Interessen“ der Kandidatin und eine Überprüfung, „ob ein Interessenkonflikt vorliegt“. Sasolli bügelt das genervt ab.

Merkel bekommt zu ihrem 65. ein besonderes Geschenk

Dass von der Leyen ab 1. November die Nachfolge von Jean-Claude Juncker antreten kann, hat vor allem etwas mit Emmanuel Macron zu tun. Der französische Präsident war es, der die Deutsche beim EU-Sondergipfel vor zwei Wochen überraschend für das Brüsseler Spitzenamt vorgeschlagen hatte, unterstützt durch Kanzlerin Angela Merkel. Die bekommt mit der Leyen-Wahl ein besonderes Geschenk zum 65. Geburtstag.

Von der Leyen versucht, den Hauptkritikpunkt nicht zu umschiffen. Keiner der Spitzenkandidaten bei der Europawahl, Manfred Weber (CSU) oder der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans, waren mehrheitsfähig in der europäischen Parteienfamilie. So wurde sie Kandidatin. Der Makel lässt sich nicht abstreifen. Von der Leyen hat nicht bei der Europawahl kandidiert, von einer Schicksalswahl war die Rede. Und nun steht hier vorne eine Frau, die Europa retten soll, aber zu Hause einen Bundestags-Untersuchungsausschuss an der Backe hat. Und die auch dank der Hilfe von Ungarns Präsident Viktor Orbán nominiert worden ist. Sie wird unter Beobachtung stehen, ob sie bei Einschränkungen von Justiz und Medien energisch genug einschreitet. Sie bekennt sich klar zum liberalen, weltoffenen Europa, das kostet ihr im nationalkonservativen Lager Zustimmung.

Das Statement der SPD geht noch vor dem der Kanzlerin raus

Fast ebenso groß wie bei von der Leyen ist die Erleichterung im Willy-Brandt-Haus. Zwei Minuten nach Bekanntgabe des Ergebnisses in Straßburg übermitteln die drei Interims-Chefs der SPD, Thorsten Schäfer-Gümbel, Malu Dreyer und Manuela Schwesig noch vor der Kanzlerin ihre Gratulation und wünschen „eine glückliche Hand bei der Bewältigung der großen vor uns liegenden Aufgaben“. Die 16 SPD-Abgeordneten haben im Europaparlament aus grundsätzlichen Demokratieerwägungen Nein gesagt. Sie müssen sich gerade von der Union vorhalten lassen, dass sie den Schuss nicht gehört hätten, zudem haben sie mit einer Sammlung der Versäumnisse von der Leyens in den Tagen zuvor Stimmung gegen sie gemacht. Wäre die Wahl schief gegangen, hätte die SPD mächtig am Pranger gestanden. Aber angesichts der starken Rede hatte sich auch hier der Wind im Laufe des Tages gedreht. Karl Lauterbach, Bewerber für den SPD-Vorsitz, betont, er würde von der Leyen nun wählen. Wenig später löscht er dann den Tweet. Auch in die Grünen treibt der Auftritt einen Keil - die Hamburger Senatorin Katharina Fegebank ruft die Kollegen zur Umkehr auf, dazu, diese leidenschaftliche Europäerin doch zu unterstützen. Die beendet ihre Rede dreisprachig: „Es lebe Europa!“ „Vive l’Europe!“ „Long live Europe!“ Sie hat es geschafft. Aber es wird nicht leicht, die Scherben dieser Kür zusammenzukehren.

Zur Startseite