Entsetzen über Mord in Idar-Oberstein: „Vermeintlichen Feinden wird das Menschsein abgesprochen“
Ein Maskengegner erschießt einen Kassierer, Coronaleugner begrüßen das. Die Sozialpsychologin Pia Lamberty erklärt, wie enthemmt die Szene mittlerweile ist.
Ein Tankstellen-Kassierer weist einen Kunden auf die Maskenpflicht hin – und wird deshalb erschossen: Die Ermittlungen zum tödlichen Angriff in Idar-Oberstein dauern noch an. Aus Ermittlerkreisen wurde am Dienstag aber bekannt, dass der Täter in den Theorien der Corona-Leugner „bewandert“ sei. „Er kennt die Quellen und hat auch angegeben, dass er sich da schlau gemacht hat“, hieß es.
In Kanälen von Coronaleugnern, Verschwörungsideologen und Rechten wird angesichts der Tat Verständnis geäußert oder sogar Freude. Die Sozialpsychologin Pia Lamberty erklärt im Interview, wie enthemmt die Szene mittlerweile ist. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der Verschwörungsideologien und ist Geschäftsführerin am Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), das unter anderem Radikalisierungstendenzen in sozialen Medien beobachtet.
Frau Lamberty, der Mord in Idar-Oberstein wird in der Szene der Verschwörungsideologen und Coronaleugner zum Teil mit Häme und Freude aufgenommen. Wie stark hat sich das Milieu in den vergangenen anderthalb Jahren radikalisiert?
Radikal war es von Anfang an. Aber im Laufe der Pandemie ist es zu einer Enthemmung gekommen. Bei Demos gab es körperliche Gewalt gegen die Presse. Bahn-Mitarbeiter:innen berichten von Übergriffen. Impfende Ärzt:innen wurden bedroht. Oft ist auch die Maske oder die Maskenpflicht Anlass für Angriffe gewesen.
Die Maske als Symbol für das verhasste System?
Ja, die Maske wurde von Verschwörungsideologen und Rechtsextremen politisiert. Die Aggressionen richten sich gegen sie, weil sie aus Sicht der Szene für die angebliche Unterdrückung steht. Wer die Maske trägt, ist direkt als „Feind“ erkennbar. Umgekehrt ist die Verweigerung des Masketragens eine sehr einfache Möglichkeit, sich als Widerstandskämpfer zu inszenieren. Auch wenn sich Leute aus der Szene mit Sophie Scholl vergleichen oder sich einen gelben „ungeimpft“-Stern anheften, geht es darum, sich als unterdrückte Minderheit darzustellen.
Diese Leute wähnen sich also im Widerstand gegen eine angebliche Diktatur. Aber erklärt das, warum sie sogar einen brutalen Mord mit Freude aufnehmen?
Die Ideologen der Szene betreiben permanent eine Dehumanisierung. Das heißt, den vermeintlichen Feinden wird das Menschsein abgesprochen: Politiker:innen, Journalist:innen, Wissenschaftler:innen. Sie werden als Marionetten dargestellt, repräsentieren angeblich das Böse. Da ist dann auch die Rede von „Tribunalen“, von „Nürnberg 2.0“. Es gibt den Wunsch nach Selbstjustiz. Gewalttaten werden als legitim empfunden, Mitgefühl fehlt.
Als Sozialpsychologin beobachten Sie auch, wie Menschen in diese Szene hineinrutschen. Gibt es bei diesen Radikalisierungsprozessen ein Muster?
Am Anfang steht meist eine Art „Erweckungsmoment“. Ein Youtube-Video, ein Erlebnis – die Menschen haben das Gefühl: Jetzt weiß ich, was hier wirklich läuft. Das wird oft verglichen mit dem Film Matrix, wo die Hauptperson eine rote Pille nimmt und plötzlich die Wahrheit erkennt. Bald glaubt die Person, immer mehr Muster zu erkennen. Mehr über Impfungen zu wissen als der Virologe. Es geht darum, sich über andere zu erheben. Über die „Schlafschafe“, die in diesem Weltbild auch „Täter“ sind, weil sie das System aufrechterhalten.
Immer wieder haben Coronaleugner einen „Tag X“ beschworen, an dem endlich das System gestürzt werden soll…
Ja, allerdings wurde zu oft für einen Tag X mobilisiert und dann passierte nichts. Das funktioniert jetzt nicht mehr. Der Wunsch nach einem Systemsturz und nach „Tribunalen“ ist nach wie vor da – aber die Gewalt entlädt sich verstärkt im Alltag.
Kann der Mord in Idar-Oberstein die Szene noch stärker aufstacheln?
Das hängt davon ab, ob es den Ideologen gelingt, den Mord als politische Heldentat darzustellen. Dann kann es diejenigen, die ohnehin gewaltbereit sind, durchaus animieren. Gleichzeitig könnte es weniger Radikale, denen ein Mord doch zu weit geht, abschrecken. In den Telegram-Kanälen ist zu beobachten, dass manche die Tat „false flag“-Aktion darstellen. Sie behaupten also, dass das nur von Regierungsseite inszeniert ist. So müssen sie sich nicht unwohl fühlen.
Welche Konsequenzen müssen jetzt aus diesem Mord und den Reaktionen darauf folgen?
Es braucht erstmal die Grundhaltung, dass Querdenken gefährlich ist. Die Angriffe auf die Presse, die Aggressionen gegen Menschen im Gesundheitsbereich, der notwendige Polizeischutz für Impfbusse – all das hätte schon Weckruf genug sein müssen. Aber ich habe das Gefühl, dass einige in der Politik dieses Milieu noch immer verharmlosen. Ich finde es falsch, dass Kanzlerkandidat Armin Laschet sagt, man müsse mit Querdenkern reden. Was wir brauchen, ist eine schnelle Verfolgung von Straftaten. Konkrete Zahlen: Wie viele Übergriffe gab es auf Grund von Maskengegnerschaft, wie viele Übergriffe auf Impfzentren? Nur so können wir erkennen, welche Ausmaße das Problem schon erreicht hat. Und in Zukunft muss bei jeder Krise von Anfang an die verschwörungsideologische Szene mit bedacht werden.
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