Bundestag und Wahlrecht: Verlässlich kleiner, verlässlich weiblicher?
Warum der SPD-Vorschlag für eine Wahlrechtsreform und die Pläne für ein Paritätsgesetz nicht ganz halten können, was sie versprechen. Ein Überblick.
Die beiden älteren Herren wissen, worum es geht: die Quadratur des Kreises. Die Floskel nutzt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gern, wenn er über die Wahlrechtsreform redet. So wie Thomas Oppermann, der Vizepräsident von der SPD. Schäuble hat die Aufgabe übernommen, zusammen mit einer kleinen Abgeordnetenrunde aller Fraktionen nach Wegen zu suchen, wie der Bundestag wieder zu einer möglichst festen, überschaubaren Größe zurückfindet. Und man nicht mehr, wie zuletzt, 111 Mandate über der gesetzlichen Mindestzahl bekommt, also 709 statt 598. Oder sogar noch deutlich mehr, wie aktuelle Umfragen signalisieren.
Das jahrzehntelang bewährte System der personalisierten Verhältniswahl ist, verkürzt gesagt, wegen der Ausdifferenzierung des Parteiensystems ins Wanken geraten. Diese Form der Verbindung von Mehrheitswahl und Verhältniswahl funktioniert nicht mehr richtig.
Schäuble will Lösung bis Ostern
Aber die Lösung, seit einem Jahr vorbereitet in einer Geheimrunde hinter verschlossener Tür, naht offenbar. Schäuble hat in der „Südwestpresse“ angekündigt: „Wir wollen bis zur Osterpause eine gemeinsame Position haben. Wir sind schon nahe dran. Und wenn es keinen gemeinsamen Vorschlage gibt, wird dem Bundestagspräsidenten nichts anderes übrigbleiben, als selbst einen Vorschlag zu machen.“ Der Vizepräsident war da schon schneller. Oppermann hat einen Plan vorgelegt, der in der SPD abgestimmt ist. Justizministerin Katarina Barley hat sich ihm zur Seite gestellt.
Die Sozialdemokraten wollen sogar zwei Ziele erreichen: einmal die Verkleinerung des Parlaments und zum anderen die Geschlechterparität. Verlässlich kleiner und weiblicher solle das Parlament dann sein, verspricht Oppermann. Dafür soll die Zahl der Wahlkreise von jetzt 299 auf nur noch 120 verringert werden, dafür gibt es in jedem Wahlkreis zwei Direktmandate statt einem. Und zwar getrennt nach Mann und Frau. Jeder Wähler hat dann drei Stimmen: eine für männliche Direktkandidaten, eine für die Direktkandidatinnen und eine für die Zweitstimme, die weiterhin für den Parteienproporz im Bundestag entscheidend wäre.
Oppermann geht davon aus, dass damit die Bundestagsgröße wieder verlässlich nahe der Mindestzahl 598 liegen wird und man der Geschlechterparität im Parlament sehr nahe kommt. Hundert Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts ist man davon noch ein gutes Stück entfernt. Hintergrund für die Zahl von 120 Zweier-Wahlkreisen ist, dass man in der Schäuble-Runde offenbar ein Modell mit 240 Einer-Wahlkreisen favorisiert, weil man glaubt, durch ein Verhältnis von 40 Prozent Direktmandaten und 60 Prozent Listenmandaten die Bundestagsvergrößerung in den Griff zu bekommen.
Experte Behnke: Suboptimal
Der „Erfinder“ der Zweier-Wahlkreise, der Politologe Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen, hält die Lösung in der Verbindung mit zwei separaten Stimmen für beide Wahlkreiskandidaten allerdings für „suboptimal“, wie er dem Tagesspiegel sagte. Behnke hat eine Halbierung der Wahlkreiszahl vorgeschlagen, weil er damit erreichen will, dass Direktmandate nicht nur an eine, sondern an zwei Parteien fallen. So sollen weniger oder im Idealfall gar keine Überhänge mehr entstehen, die über Ausgleichsmandate neutralisiert werden müssen. Überhänge ergeben sich, wenn eine Partei über Direktmandate mehr Sitze erhält, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zustehen.
Behnkes Ansatz funktioniert nur, wenn die Wähler weiterhin nur eine Wahlkreisstimme haben. Die Idee, die Parteien mit einem Mann und einer Frau antreten zu lassen, lehnt Behnke zwar nicht ab, weil so die Kandidaturen von Frauen gefördert werden können. „Aber wenn zwei Erststimmen zur Verfügung stehen, werden die meisten Wähler beide an den Kandidaten und die Kandidatin ihrer Partei vergeben. Damit wird der Effekt, den die Zweier-Lösung zur Verkleinerung des Bundestags beiträgt, deutlich verringert.
Dazu trägt dann nur die Verringerung des Anteils der Direktmandate an allen Mandaten von bisher 50 Prozent auf dann 40 Prozent bei. Wenn die größte Partei aber unter 40 Prozent der Zweitstimmen liegt, besteht weiter die Gefahr, dass doch immer noch Überhangmandate in größerer Zahl anfallen und damit ein größerer Bundestag als gewünscht herauskommt.“
Wie viele Wahlkreise?
Der Mathematiker Christian Hesse hat im "Spiegel" gerade ebenfalls darauf hingewiesen, dass ein Modell mit 240 Einer-Wahlkreisen (oder eben 120 Zweier-Wahlkreisen) nicht genügt. Er rechnet vor, dass man mindestens auf 200 Wahlkreise heruntergehen müsste, um auf der sicheren Seite zu sein. Bei einem Modell mit nur noch 120 Wahlkreisen kommt man zudem mit der Ländereinteilung der Bundesrepublik in Konflikt.
Der Aachener Mathematiker Sebastian Goderbauer, ein Experte für Wahlkreiseinteilung, weist darauf hin, dass dann das Saarland nur noch einen Wahlkreis hätte, der aber nach Bevölkerungszahl erheblich größer als der Durchschnitt wäre - und das ist nicht erlaubt. Je weniger Wahlkreise es gibt, je mehr Probleme stellen sich mit Blick auf die Landesgrenzen.
Oppermanns Modell trägt also einen Zielkonflikt in sich: Möglichst viel Parität passt nicht ganz zu möglichst wenig Abgeordneten. Zudem geht der Vorschlag auch nicht das Kernproblem des bestehenden Wahlrechts an, das auch „bayerisches Problem“ genannt wird: eine sehr schwache CSU holt dennoch alle oder nahezu alle Direktmandate. Jeder Überhang der Regionalpartei CSU löst bundesweit einen viel größeren Ausgleichsbedarf nach sich als etwa Überhänge der CDU. Über den Daumen gepeilt sind es mindestens zehn Ausgleichsmandate pro CSU-Überhang. Der Bundestag kann damit immer noch um mehrere Dutzend Mandate größer ausfallen als die angestrebten 598 Sitze.
Geschlechtertrennung als Lösung?
Nicht ganz unproblematisch ist auch der Versuch der SPD, über die Geschlechtertrennung bei der Stimmvergabe Parität im Parlament anzustreben. Es könnte nämlich je nach Stimmverteilung und Splitting, gerade in Wahlkreisen, in denen alle Parteien relativ nahe beieinander liegen, dazu kommen, dass nicht die beiden Stimmenbesten in den Bundestag einziehen, sondern zum Beispiel eine Frau als Wahlkreisbeste und ein Mann, der aber weniger Stimmen hat als die zweitbeste Frau. Oder umgekehrt.
Das Prinzip der Mehrheitswahl, das ja weiterhin angewendet werden soll, wäre damit gebrochen. Und den Wählern vorzuschreiben, immer beide Stimmen – Mann wie Frau – abzugeben, dürfte die Wahlfreiheit tangieren. Im Übrigen ist nach dem bisherigen Wahlrecht, an das Oppermann ja anknüpft, den Parteien gar nicht vorgegeben, überhaupt in den Wahlkreisen anzutreten. Es reicht, Landeslisten für die entscheidende Zweitstimme aufzustellen.
Das ebenfalls in den Parteien diskutierte Vorhaben, auch die Parität auf diesen Landeslisten im Wahlgesetz zu verankern, hat zudem auch eine Tücke. Bei ungeraden Mandatszahlen in den Ländern ergeben sich stets Verzerrungen, die in der Addition bei 16 Landeslisten mehr oder weniger deutlich neben dem 50:50-Ziel liegen können. Und wie beginnt man? Mit einer Frau, einem Mann? Müssen dann die Parteien entscheiden, in welchem Land sie weibliche und in welchem sie männliche Spitzenkandidaten auf die Liste setzen?
FDP hat verfassungsrechtliche Bedenken
Parität auf den Listen per Gesetz kommt zudem nicht in allen Parteien gut an. Mit Blick auf die Überlegungen im Bund und ein rot-rot-grünes Gesetzesvorhaben in Brandenburg sagte Stefan Ruppert, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP im Bundestag, dem Tagesspiegel, er halte diese für „verfassungsrechtlich höchst problematische Initiativen“ und „durchschaubare Wahlkampfmanöver“. Sinnvoller wäre es, „sich ernsthaft damit zu beschäftigen, wie mehr Frauen dazu motiviert werden können, sich politisch zu engagieren“. Notwendig seien gesamtgesellschaftliche Anstrengungen, damit mehr Frauen erfolgreich bei Wahlen kandidierten. „Auf keinen Fall darf aber das Wahlrecht den Wählerinnen und Wählern vorschreiben, wie das Ergebnis einer Wahl auszusehen hat.“
Fazit: Der Oppermann-Reformvorschlag samt der Paritätsvorschrift für die Listen würde Kandidaturen von Frauen in den Parteien, die nicht ohnehin schon Parität anstreben, fördern. Echte Parität bei den Mandaten sichert beides nicht, und auch die im Wahlsystem eingebaute Vergrößerungsmechanik ist nicht völlig ausgehebelt.