Reform des Wahlrechts: Sind weniger Wahlkreise die Lösung?
Seit einem Jahr müht sich der Bundestag, ein Wahlsystem zu finden, das eine feste Parlamentsgröße sichert. Ein Vorschlag lautet: Schafft Wahlkreise ab.
Im Sommer war der Bundestagspräsident noch einigermaßen optimistisch. „Ich hoffe, dass wir die Eckpunkte einer Wahlrechtsreform bis Ende dieses Jahres hinbekommen“, sagte Wolfgang Schäuble im Juli. Nun ist das Jahr 2018 vorbei, die Eckpunkte aber gibt es nicht. Die vor einem Jahr gebildete Arbeitsgruppe aller sieben Parlamentsparteien mit Schäuble an der Spitze hat zwar ihre Vereinbarung weitgehend eingehalten, aus den Gesprächsrunden nichts nach außen dringen zu lassen. Aber das Vorhaben, ein neues Wahlrecht zu schaffen, das eine feste Größe des Bundestags sichert, kommt offenbar nicht recht voran. Die Differenzen sind nach wie vor groß und grundsätzlicher Natur.
Dabei drängt die Zeit. Schäuble selbst hat zwar angedeutet, dass das neue Wahlrecht vielleicht erst zur übernächsten Wahl – regulär also 2025 – greifen soll. Damit wollte er wohl die Konflikte zwischen den Parteien beherrschbarer machen, denn in sieben Jahren stehen viele der aktuellen Abgeordneten erfahrungsgemäß nicht mehr zur Wahl.
Aber kann man sich das angesichts der drohenden Gefahr eines noch viel größeren Parlaments bei der nächsten regulären Wahl 2021 oder bei einer vorgezogenen Neuwahl überhaupt leisten? 709 Abgeordnete hat der Bundestag jetzt, 111 mehr als die gesetzlich vorgesehene Mindestzahl von 598. Die Ursache liegt im Parteiensystem. Links der Mitte ist die SPD schon seit längerem angefochten und schafft immer weniger Direktmandate, rechts der Mitte schwächeln nun auch CDU und CSU, gewinnen aber immer noch viele Wahlkreise. 231 Direktmandate gingen bei der Wahl 2017 an die Union, was fast 39 Prozent der Mindestsitzzahl entsprach. Das für den Parteienproporz entscheidende Zweitstimmenergebnis lag aber nur bei 33 Prozent. Das entspricht 197 Sitzen. Direktmandate aber sind garantiert, und somit bestand ein Überhang von 34 Sitzen, der mit Ausgleichsmandaten für andere Parteien korrigiert werden musste.
Aktuell bis zu 825 Abgeordnete
Nach den aktuellen Umfragen hätte ein jetzt gewählter Bundestag sogar bis zu 825 Abgeordnete. Es könnten auch noch mehr werden. Dieses Defizit der unbeherrschbaren Größe muss vor allem beseitigt werden. Doch wie? Kann man die Sollzahl dauerhaft sichern? Wie groß darf ein „Überschuss“ sein? Wie steht es mit der Bereitschaft des Bundestags, über das bestehende System hinauszudenken und einen mutigen Wechsel anzugehen? Denkbare andere Modelle gibt es, doch scheinen sich die Fraktionen im alten Rahmen bewegen zu wollen – also der Verhältniswahl, die mit der Möglichkeit einer direkten Personenwahl verbunden ist. Das seit 1949 geltende Modell, das Mehrheitswahl und Verhältniswahl verbindet, bleibt Richtschnur. Man will also die alte Karre noch einmal reparieren, ein Neuwagen kommt nicht in Frage.
Im Dezember hat als erster aus der Reformerrunde der FDP-Abgeordnete Stefan Ruppert ein bisschen hinter die Kulissen blicken lassen. In einem Problemaufriss für die „Frankfurter Allgemeine“ versteckte er einen Hinweis auf ein zumindest für ihn denkbares Modell. Ruppert schlug vor, das Verhältnis der Direkt- und Listenmandate (bisher grundsätzlich 50 zu 50) zu ändern, und zwar zugunsten der Liste. Ein Verhältnis von 60 zu 40 würde den Ausgleichsbedarf mindern. Bleibt man bei 598 Abgeordneten als Sollgröße, landet man bei 239 Wahlkreisen. Es müssten also 60 Wahlkreise verschwinden und in anderen aufgehen. Hier jedoch baut sich Widerstand auf, vor allem in der Union, aber auch unter SPD-Politikern. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hatte im Herbst sogar ausdrücklich abgelehnt, die Zahl der Wahlkreise überhaupt zu senken. Wohl mit Blick darauf kann sich Ruppert eine „maßvolle“ Vergrößerung der Mindestsitzzahl vorstellen, um so die Verringerung der Wahlkreiszahl zu dämpfen.
Etwas mehr Sitze, etwas weniger Wahlkreise?
Konkrete Zahlen hat der FDP-Politiker nicht genannt. Aber eine Gesamtsitzzahl von ungefähr 630 wäre wohl eine maßvolle Vergrößerung, es blieben dann noch etwa 250 der 299 Wahlkreise übrig. Aber würde eine solche Korrektur im bestehenden System das Problem des unkontrollierbaren Parlamentszuwachses wirklich verhindern oder deutlich entschärfen? Für den Tagesspiegel hat Matthias Moehl vom Hamburger Wahlinformationsdienst „election.de“ das Modell – 630 Mandate Sollgröße bei 40 Prozent Direktmandaten – durchgerechnet. Und zwar unter der Annahme des größten möglichen Problems in diesem System: viele CSU-Überhänge, die einen großen Ausgleichsbedarf nach sich ziehen, weil die Christsozialen ja nicht bundesweit antreten und eine „Verrechnung“ mit der CDU nicht möglich ist. Dieses „bayerische Problem“ wird dann zum Stolperstein, wenn die CSU sehr schwach abschneiden, aber trotzdem fast alle oder alle Direktmandate gewinnen würde.
Bei einem 40-Prozent-Modell (mit exakt 252 Wahlkreisen bundesweit) hätte Bayern weiterhin 98 Mindestmandate bei nur noch 39 Wahlkreisen. Unterstellt wird, im Rahmen der aktuellen Umfragen, ein CSU-Zweitstimmenergebnis von 32,5 Prozent – nach den neueren Erfahrungen ist das nicht unrealistisch. Der CSU-Sitzanspruch läge dann, sonstige Parteien im Land unter fünf Prozent abgezogen, bei 34 Mandaten. Gingen 36 der 39 Direktmandate an die CSU, weil etwa die Grünen in München zum Zuge kämen, würde dieser Zwei-Sitze-Überhang der CSU bundesweit zu 657 Mandaten führen. Also 27 Sitze über der maßvoll erhöhten Sollzahl. Würde die CSU mit diesem Zweitstimmenergebnis alle Wahlkreise gewinnen und die damit verbundenen garantierten Direktmandate, müsste der Bundestag auf 712 Sitze wachsen, um über den Ausgleich für andere Parteien die Verhältnismäßigkeit herzustellen. Selbst bei 35 Prozent für die CSU würde man in diesem Fall noch bei einer Parlamentsgröße von 663 landen. Moehls Fazit lautet daher: „Es wird deutlich, dass man mit 630 Sitzen bei 40 Prozent Direktmandaten noch nicht auf der sicheren Seite wäre.“
Würde eine Zählgemeinschaft von CDU und CSU helfen, bei der beide Parteien wie eine bundesweite Einheit behandelt würden? Die Antwort, bei aller Vorsicht: Das könnte zwar den Zuwachs je nach Konstellation etwas dämpfen, aber man würde im Extrem-Szenario mit 39 CSU-Direktmandaten immer noch bei 686 Sitzen landen. Es muss auch keineswegs allein an Bayern liegen. „Bei 30-Prozent-Ergebnissen der Union in einigen Ländern mit gleichzeitigem Gewinn aller oder fast aller Wahlkreise wird das Problem bleiben“, sagt Moehl.
Noch eine Stellschraube
Es bleibt aber noch eine Stellschraube, will man im bestehenden System mit garantierten Direktmandaten bleiben und das Problem über die Verringerung der Wahlkreiszahl lösen. Denn aktuell wird ein aufwändiges Sitzzuteilungsverfahren angewendet, das in einem ersten Schritt dafür sorgt, dass in allen Bundesländern genügend Sitze vergeben werden, um die Direktmandatsgarantie zu sichern. Nach Ansicht des Augsburger Mathematikprofessors und Wahlexperten Friedrich Pukelsheim ist dieser Schritt überflüssig. Er sorge dafür, dass der Bundestag immer über seine Sollgröße hinauswachse, völlig unabhängig vom Wahlergebnis. Er schlägt vor, diese Schwachstelle zu tilgen und die Zuteilung zu vereinfachen. Würde man dann zusätzlich die Zahl der Wahlkreise verringern, käme man der Lösung – einer festen Bundestagsgröße – nahe. Pukelsheim schlägt 240 Direktmandate bei einer Gesamtgröße des Parlaments von weiterhin 598 Mandaten vor.
„Mit diesem Doppelpack – 240 Wahlkreise statt 299 und einer vereinfachten Vorabkalkulation – wäre in der Vergangenheit die gesetzliche Sollgröße durchgängig eingehalten worden“, sagte er dem Tagesspiegel. „Nur wenn die Anziehungskraft der großen Parteien weiter nachlässt, ergäbe sich ein moderater Zuwachs der Bundestagsgröße.“ Und das bayerische Problem – schwache CSU, aber alle Wahlkreise gewonnen? Das gab es in der Vergangenheit ja kaum. Pukelsheim sagt, „das Problem schlummert auch in diesem Modell. Es ist denkbare Realität und bleibt ein mögliches Manko.“
Auch im 630-Sitze-Modell träte mit der Straffung der Sitzzuteilung der Dämpfungseffekt ein. Nach Moehls Berechnungen käme man mit deutlich weniger Ausgleichsmandaten aus. Allerdings könnte es dann sein, dass die CDU gar keine Listenmandate mehr zugeteilt bekäme – und zum Beispiel in Bremen gar nicht und in Hamburg nur noch mit einem Abgeordneten vertreten wäre. Auch wenn das als Kleinigkeit gewertet würde – solche regionalen Verzerrungen dürften in der Unionsfraktion kaum dazu beitragen, dass die Abneigung gegen eine Reform abnimmt, die auf eine Verringerung der Wahlkreiszahl um bis zu ein Fünftel hinausläuft.
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