Libyen: USA verlegen Marine-Infanteristen nach Sizilien
Wegen der Eskalation der Gewalt in Libyen verlegen die USA 60 weitere Marine-Infanteristen von Spanien nach Sizilien. Von dort könnten sie im Notfall schneller in das nordafrikanische Krisenland gelangen.
Die USA erhöhen angesichts der angespannten Lage in Libyen ihre Militärpräsenz auf Sizilien. Etwa 60 weitere Marine-Infanteristen werden nach Angaben von US-Regierungsvertretern vorsorglich von ihrem Stützpunkt in Spanien auf die italienische Mittelmeerinsel verlegt, von der aus sie im Notfall schneller in das nordafrikanische Krisenland gelangen könnten. Insgesamt werden damit vorübergehend 250 Marines auf der Basis Sigonella stationiert sein. Sie könnten zum Einsatz kommen, falls die amerikanische Botschaft in Tripolis aus Sicherheitsgründen evakuiert werden muss.
Saudi-Arabien hatte am Montag wegen der verschlechterten Sicherheitslage seine Botschaft und sein Konsulat in der libyschen Hauptstadt geschlossen. Das gesamte diplomatische Personal beider Vertretungen wurde ausgeflogen.
Die Marines in Sigonella gehören zu einer Eingreiftruppe, die auf die Sicherheit von Botschaften spezialisiert ist. Sie wurde gegründet nach dem Angriff auf die diplomatische US-Vertretung im libyschen Bengasi am 11.
September 2012, bei dem der damalige Botschafter Christopher Stevens und drei weitere Amerikaner getötet wurden. Neben den zusätzlichen Soldaten sollen auch vier Osprey-Flugzeuge nach Sizilien verlegt werden, die mit ihren schwenkbaren Rotoren wie Hubschrauber starten und landen können. Sizilien ist etwa 500 Kilometer von Tripolis entfernt.
Nach dem jüngsten Gewaltausbruch mit 77 Toten in Libyen kämpft die Übergangsregierung praktisch ums Überleben. Seit dem Wochenende erlebt Libyen in Tripolis und Bengasi die schwersten Kämpfe seit dem Sturz von Muammar al Gaddafi vor zweieinhalb Jahren.
Am Sonntag stürmten Bewaffnete das Parlament in Tripolis. Anschließend trat ein Oberst im privaten Fernsehsender „Libya International“ auf und erklärte angeblich im Namen der Armee, das Parlament sei aufgelöst und die Regierung abgesetzt. Zur neuen Volksvertretung deklamierte er die 60-köpfige verfassunggebende Versammlung, die Anfang des Jahres gewählt worden war, der aber wegen Unruhen am Wahltag immer noch 13 Mandatsträger fehlen.
Pensionierter General ruft zum Feldzug gegen Islamisten auf
Verantwortlich für die Eskalation ist der pensionierte General Khalifa Haftar, der mit ihm ergebenen Verbänden einen Feldzug gegen islamistische Rebellenbrigaden ausgerufen hat. „Wir werden Libyen von Extremisten säubern“, gab er am Wochenende als Parole aus. Einer seiner Mitstreiter denunzierte das Parlament als „den wichtigsten Verbündeten des Terrorismus“. Wie viel Rückhalt Haftar in der Bevölkerung und in der regulären Armee hat, ist unklar. Im Februar hatte er schon einmal versucht, nach dem Vorbild von Ägyptens Feldmarschall Abdel Fattah al Sisi auch in Libyen einen „Krieg gegen den Terror“ auszurufen – ohne große Resonanz.
Die Regierung bestritt am Montag ihre Entmachtung und sprach von einem Putschversuch. Der geschäftsführende Premierminister Abdullah al Thinni nannte den abtrünnigen General Haftar einen Kriminellen. Justizminister Salah al Marghani rief in den Morgenstunden live im Fernsehen alle Konfliktparteien zu einem nationalen Dialog auf. Das Erziehungsministerium wies alle Schulen und Universitäten an, normalen Unterricht zu halten. Doch die Autorität der zivilen Führung existiert nur noch auf dem Papier. Das Parlament ist tief gespalten zwischen säkularen und islamistischen Kräften. Die wahren Herren im Land dagegen sind die bewaffneten Milizen und ihre Chefs, die für zahlreiche Morde an Offizieren, Richtern, Politikern und Ausländern verantwortlich sind.
Laut einer Studie des amerikanischen „Atlantic Council“ gehören solchen dubiosen Verbänden inzwischen mehr als 250 000 Mann an, obwohl 2011 im Bürgerkrieg gegen Gaddafi lediglich 30 000 oppositionelle Kämpfer aktiv waren.
Ein Teil der Brigaden wurde zwar dem Innen- und dem Verteidigungsministerium unterstellt, ihre Loyalität aber gilt ihren Kommandeuren. Andere Milizen betätigen sich als islamistische Kadertruppen, die Libyen in einen Scharia-Staat verwandeln möchten. Wieder andere haben sich ganz auf das organisierte Verbrechen verlegt und kontrollieren inzwischen in der gesamten Region den Waffenhandel.
In den Nachbarstaaten Algerien, Tunesien und Ägypten wächst die Angst vor regionalen Folgen des Bürgerkriegs. Vor allem über die Grenzen nach Tunesien und Ägypten werden große Mengen an Gewehren und Raketen aus den ehemaligen Beständen Gaddafis geschmuggelt. Alle drei Anrainer setzten am Wochenende ihre Grenztruppen in Alarmbereitschaft. Allein Tunesien will zusätzliche 5000 Soldaten mobilisieren. „Libyen ist ein Vulkan kurz vor der Explosion“, erklärte in Tripolis der gemäßigte Abgeordnete Tawfik Breik von der säkularen „Nationalen Allianz“ gegenüber der BBC. „Es gibt kein wirkliches Parlament in Libyen, es gibt keine wirkliche Regierung. Das Einzige, was es gibt, sind überall Milizen.“ (mit rtr)
Martin Gehlen