Regierungskrise in Brasilien: Unter Druck
Brasiliens Präsident Michel Temer soll Bestechungsgelder angenommen haben. Dem südamerikanischen Land droht damit die nächste große Staatskrise.
Sie hat ein kleines politisches Erdbeben ausgelöst: die Kronzeugenaussage von Cláudio Melo Filho, einem ehemaligen Direktionsmitglied des Baukonzerns Odebrecht. In ersten Auszügen, die am Wochenende an die Medien durchsickerten, beschuldigt er Brasiliens Präsident Michel Temer sowie zwei Dutzend weitere Spitzenpolitiker der Korruption. Viele gehören Temers Regierungsmannschaft an, darunter Stabschef Eliseu Padilha und die Führer von Senat, Renan Calheiros, sowie Abgeordnetenhaus, Rodrigo Maia. Die meisten der Beschuldigten sind außerdem einflussreiche Mitglieder von Michel Temers Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB).
In seiner Aussage, die Melo im Zuge der größten Korruptionsermittlungen Brasiliens mit dem Codenamen „Lava Jato“ (Autowaschanlage) gemacht hat, beschreibt er ein ausgeklügeltes System von Schmiergeldzahlungen. Die meisten illegalen Gelder seien zur geheimen Unterstützung der Wahlkämpfe bestimmter Politiker in sogenannte „Zweite Kassen“ geflossen. Die Politiker hätten im Gegenzug die Interessen von Odebrecht in Senat und Abgeordnetenhaus durchgesetzt. Odebrecht ist der größte Baukonzern Brasiliens und einer der größten Empfänger öffentlicher Aufträge in dem südamerikanischen Land. Der Konzern ist außerdem an Bau- und Immobilienprojekten rund um die Welt beteiligt.
Präsident Michel Temer sowie alle anderen Beschuldigten weisen die Vorwürfe Melos kategorisch zurück. Sie behaupten, alle Wahlkampfspenden ordentlich deklariert zu haben. Tatsächlich fehlt es bisher an handfesten Beweisen, etwa Tonbandaufnahmen. Allerdings ist Melos Geständnis nur eins der ersten von insgesamt 77 Geständnissen hoher Odebrecht-Manager, deren Wortlaute in diesen Wochen öffentlich werden dürften. Die Manager sind allesamt der Korruption angeklagt; von ihren Kronzeugenaussagen versprechen sie sich entscheidende Strafnachlässe.
Mit größter Spannung wird nun die Aussage von Marcelo Odebrecht erwartet, dem ehemaligen Konzernchef selbst. Als die „Denunziation von Ende der Welt“ bezeichnen Brasiliens Medien Odebrechts Aussage bereits. Nach ihr, so die dramatische Vorhersage, werde in Brasília kein Stein auf dem anderen bleiben.
Bereits jetzt fragt man sich, wie lange Temers Regierung noch durchhält. Sie versucht derzeit mit Hilfe eines konservativen Kongresses ein neoliberales Sparprogramm durchzusetzen. Etwa sollen die Ausgaben für Bildung und Gesundheit für die kommenden 20 Jahre eingefroren werden. Repräsentanten der Vereinten Nationen bezeichnen das Vorhaben als „Menschenrechtsverletzung“ und „sozialen Rückschritt“, der die Zukunft einer ganzen Generation gefährde.
In Brasilien selbst kommt der Widerstand gegen das Vorhaben vor allem von sozialen Bewegungen, schlägt sich aber nicht in Massenprotesten nieder. Die konservative Elite Brasiliens befürwortet die drastischen Einschnitte und die Massenmedien – allen voran der mächtige Globo-Konzern – haben Michel Temers bisher mit Wohlwollen und Sympathie begleitet. Ob sich dies mit mit den Aussagen gegen ihn ändern wird, bleibt abzuwarten.
Interessant an Cláudio Melos Aussage ist, dass erstmals nicht die linke Arbeiterpartei (PT) von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff im Visier der Ermittler steht, sondern die rechtszentristische PMDB. Die größte Partei Brasiliens ist seit 2002 an der Macht beteiligt, unterstützte dieses Jahr aber die umstrittene Absetzung Rousseffs, an deren Ende Vizepräsident Michel Temer neues Staatsoberhaupt wurde. Anders als Temer hat man Rousseff jedoch nie der Korruption bezichtigt. Auch in Melos Geständnis taucht sie nicht als Geldempfängerin auf.
Parallel zu Melos Aussage wurden zwei weitere Kronzeugenaussagen von Odebrecht-Managern in geringeren Auszügen bekannt. Der Odebrecht-Beauftragte für den Bundesstaat Rio de Janeiro beschuldigt Rios Gouverneur Luiz Fernando Pezão und Rios Ex-Bürgermeister Eduardo Paes, Schmiergelder empfangen zu haben; beide sind in der PMDB. Der Odebrecht-Direktor für São Paulo wirft wiederum Brasiliens Außenminister José Serra und dem Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin, die Annahme illegaler Parteispenden vor.
Auch sie weisen die Vorwürfe zurück. Alckmin und Serra gehören der rechten Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) an. Wie die PMDB wurde auch sie bisher von dem Ermittlungsteam um Untersuchungsrichter Sérgio Moro verschont. Es brachte ihm den Vorwurf ein, es einzig auf die linke Arbeiterpartei abgesehen zu haben. Die neuen Aussagen werden die Ermittler nun zwingen, den Fokus ihrer Untersuchungen zu verschieben.
Die Brasilianer reagieren auf die neuen Enthüllungen mit einer Mischung aus Wut und Resignation. Dass ohnehin alle Politiker korrupt seien und Brasilien keine Zukunft mehr habe, hört man häufig. Nachdem Brasilien ein Jahrzehnt lang als das „Land der Zukunft“ gefeiert wurde, hat sich die Euphorie in ihr krasses Gegenteil verkehrt. Die schwere politische Krise hat sich mit einer seit vier Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise zu einem schweren Vertrauensverlust des Landes in seine eigenen Kräfte ausgewachsen. Die Zunahme der allgemeinen Gewalt trägt zu diesem Gefühl bei.
Im Grunde wäre dies der ideale Moment für eine junge alternative Partei oder eine politische Persönlichkeit, die Hoffnung macht. Es gehört zur brasilianischen Tragödie, dass es beide nicht zu geben scheint.