Deutschland exportiert mehr Rüstung: Unter Beschuss
Die große Koalition hat mehr Rüstungsexporte genehmigt als jede Regierung vor ihr. Und jetzt setzt die Türkei deutsche Panzer gegen Kurden ein. Wie kommt Berlin aus dem Dilemma? Die wichtigsten Antworten.
Noch nie hat eine Bundesregierung so viele Rüstungsgeschäfte genehmigt wie die große Koalition in den vergangenen vier Jahren. Dabei war der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) mit dem Versprechen angetreten, die Waffenexporte zu beschränken. Für den heutigen geschäftsführenden Außenminister gibt es im Zusammenhang mit Rüstungsexporten noch ein ganz anderes Problem: Die Türkei setzt offenbar Panzer aus Deutschland für ihre Offensive in den Kurdengebieten im Norden Syriens ein. Gabriel hatte sich nach seinem Treffen mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu gerade erst positiv über ein Rüstungsprojekt geäußert, mit dem ausgerechnet die Panzer in der Türkei modernisiert werden sollen.
Was ist bisher über die deutschen Rüstungsexporte im vergangenen Jahr bekannt?
Der Rüstungsexportbericht der Bundesregierung für 2017 liegt zwar noch nicht vor, aber in einer Antwort auf eine Frage des Bundestagsabgeordneten Stefan Liebich (Linke) teilte das Wirtschaftsministerium einige vorläufige Zahlen mit. Demnach genehmigte die große Koalition im vergangenen Jahr Rüstungsexporte mit einem Gesamtwert von 6,2 Milliarden Euro. Der größte Teil davon ging nicht in Staaten, die der EU oder der Nato angehören und deshalb (derzeit mit Ausnahme der Türkei) als unproblematische Empfänger gelten, sondern an so genannte Drittländer: In diese Staaten durften Rüstungsgüter im Wert von 3,8 Milliarden Euro exportiert werden, im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um rund 120 Millionen Euro. Zwischen 2014 und 2017 genehmigte die Bundesregierung Waffenexporte in einem Gesamtwert von 24,9 Milliarden Euro – und damit deutlich mehr als die schwarz-gelbe Koalition, die auf ein Gesamtvolumen von 20,7 Milliarden Euro kam. Besonders deutlich ist der Anstieg ausgerechnet beim Export in die Drittstaaten: Während von 2010 bis 2013 Waffen und andere Rüstungsgüter im Wert von 9,9 Milliarden Euro in Drittstaaten genehmigt wurden, stieg das Volumen in den folgenden vier Jahren um etwa 46 Prozent: Die Koalition aus Union und SPD winkte Ausfuhren in Drittländer in Höhe von 14,5 Milliarden Euro durch.
Welche Länder waren die wichtigsten Empfänger deutscher Waffen und anderer Rüstungsgüter?
An der Spitze der Empfängerstaaten stand im vergangenen Jahr Algerien mit Genehmigungen in Höhe von fast 1,4 Milliarden Euro, gefolgt von Ägypten mit geplanten Exporten in Höhe von 708 Millionen Euro. Zu den zehn wichtigsten Empfängerländern zählten wie bereits seit Jahren auch Saudi-Arabien, obwohl das Land im Nachbarland Jemen Krieg führt, und die Vereinigten Arabischen Emirate. Südkorea steht ebenfalls auf der Liste der wichtigsten Kunden der deutschen Rüstungsindustrie ganz weit oben.
Wie werden die Zahlen von der geschäftsführenden Bundesregierung und der Opposition bewertet?
„Die Bundesregierung verfolgt eine restriktive und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik“ – dieser Satz wird im Wirtschaftsministerium fast schon gebetsmühlenartig wiederholt. Am Mittwoch betonte eine Sprecherin, der Gesamtwert der genehmigten Exporte sei im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen (von 6,8 auf 6,2 Milliarden Euro). Die Rüstungszahlen schwankten, seien aber in der Tendenz rückläufig. Ein Blick in die Rüstungsexportberichte der vergangenen Jahre zeigt, dass die Zahlen seit 2015 zwar zurückgehen – aber nur, weil das Jahr ein absolutes Rekordjahr war. Verglichen mit früheren Jahren wurde 2017 der dritthöchste Wert überhaupt erreicht, bei den Einzelgenehmigungen für Drittländer sogar der zweithöchste Wert. Die Sprecherin des Wirtschaftsministeriums wies zugleich darauf hin, dass einzelne Großaufträge die Zahlen in die Höhe trieben, 2017 beispielsweise durch die Lieferung einer Fregatte nach Algerien.
Aus der Opposition kam massive Kritik an der Rüstungsexportpolitik der großen Koalition: Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch warf Union und SPD vor, „total versagt“ zu haben, und sprach von „moralischer Verkommenheit“. Der Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte, die Bundesregierung habe ihr Versprechen gebrochen, die Zahl der Rüstungsexporte zu senken. Zumindest in einem Punkt wollen Union und SPD ihre bisherige Rüstungsexportpolitik ändern: An Staaten, die im Jemen Krieg führen, sollen keine Waffen mehr geliefert werden. Von diesem Verbot wären mit Saudi-Arabien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten gleich drei Staaten betroffen, die noch 2017 zu den zehn wichtigsten Kunden der deutschen Rüstungsindustrie zählten. Der Ausfuhrstopp soll nicht erst mit dem Antritt der neuen Regierung gelten, sondern ab sofort.
Ankara setzt offenbar Panzer aus Deutschland für die Offensive gegen die Kurden ein. Was ist darüber bekannt?
Ungeachtet internationaler Besorgnis will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG im Norden Syriens fortsetzen. „Zuerst werden wir die Terroristen ausrotten, dann werden wir es dort lebenswert machen“, sagte Erdogan am Mittwoch. Die Bundesregierung betrachte die Militärintervention „mit großer Sorge“, sagte eine Sprecherin. Alle Beteiligten sollten die Kampfhandlungen einstellen und Zugang für humanitäre Hilfe gewähren. Für die Bodenoffensive setzt die türkische Armee Panzer vom Typ Leopard 2 A4 ein. Deutschland lieferte zwischen 2006 und 2011 etwa 350 Leopard-2-Panzer an die Türkei. Die Bundesregierung untersagte nur die Weitergabe der Panzer an Dritte, andere Bedingungen stellte sie dem Nato-Partner nicht, obwohl das in der Vergangenheit durchaus üblich gewesen war: Vor der Lieferung des Vorgängermodells Leopard 1 in den 80er und 90er Jahren ließ sich Deutschland von der Türkei vertraglich zusichern, dass die Panzer nur im Zusammenhang mit Artikel 5 des Nato-Vertrages zum Einsatz kommen – also nur im Verteidigungs- oder Bündnisfall. Am Mittwoch sprach der deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, mit dem Verteidigungsminister in Ankara über die türkische Offensive.
Was bedeutet das türkische Vorgehen gegen die Kurden für mögliche Rüstungsexporte in die Türkei?
Obwohl die Türkei der Nato angehört, hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr mehrere Genehmigungen zum Export von Rüstungsgütern verweigert. Der Gesamtwert der erteilten Genehmigungen sank von 83,9 Millionen Euro im Jahr 2016 auf 34,2 Millionen Euro. Zur Frage, welche Folgen die türkische Militäroffensive für die Chancen eines neuen Rüstungsprojekts hat, wollte sich die Bundesregierung am Mittwoch nicht näher äußern. Die Türkei will die Leopard-2-Panzer modernisieren lassen, um sie widerstandsfähiger gegen Angriffe zu machen, Rheinmetall könnte den Auftrag bekommen. Gabriel hatte nach seinem Treffen mit Cavusoglu eine zeitnahe Prüfung durch die Bundesregierung angekündigt. Nicht nur Linke und Grüne fordern einen Stopp aller Rüstungsexporte in die Türkei. Der CDUBundestagsabgeordnete Norbert Röttgen nannte es „völlig ausgeschlossen“, die Modernisierung der türkischen Panzer zu genehmigen. Auch der SPD-Außenexperte Rolf Mützenich sprach sich gegen das Projekt aus.