Koalitionsverhandlungen: Union und SPD räumen Dissens bei Migration aus
Immer mehr Einigungen sickern aus den Verhandlungen von Union und SPD durch. Und doch: "Es liegt noch ein sehr schweres Stück Weg vor uns", sagt Peter Altmaier. Auch Angela Merkel sieht noch ernste Probleme.
Die Chefs von CDU, SPD und CSU rechnen mit harten Verhandlungen auf der Zielgeraden zu einer neuen großen Koalition, zeigen sich aber optimistisch. Es gebe noch „eine ganze Reihe sehr ernster Dissenspunkte“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor dem Start in die entscheidenden Marathonverhandlungen. „Wir sind guten Willens, sie zu überwinden. Aber da liegt noch ein Riesenstück Arbeit vor uns.“ SPD-Chef Martin Schulz sagte, nun müsse „Sorgfalt vor Schnelligkeit“ gehen. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer zeigte sich „überzeugt, dass wir das schaffen“. Es gebe bisher keinen Grund davon auszugehen, dass die Verhandlungen länger als bis einschließlich Sonntag dauerten.
Als entscheidende Knackpunkte nennen die GroKo-Unterhändler übereinstimmend die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin und von sachgrundlos befristeten Arbeitsverträgen, beides fordert die SPD. In diesen Punkten werde man in den kommenden Tagen noch „hart“ verhandeln, kündigte Schulz vor der Parteizentrale der Sozialdemokraten an. SPD-Vize Manuela Schwesig betonte: „Da muss die Union sich bewegen.“ Am Ende der Verhandlungen stimmen die SPD-Mitglieder über einen Koalitionsvertrag ab.
In anderen Bereichen haben die Fachgruppen dagegen bereits Kompromissvorschläge vorgelegt. Nach milliardenschweren Einigungen bei Bildung und Rente kamen die Unterhändler auch in der Wirtschafts-, Gesundheits-, Verkehrs- und Innenpolitik voran.
Mehr als 90 Unterhändler bei entscheidendem Verhandlungsmarathon
Historisch schlechte Umfragewerte für die Sozialdemokraten überschatten aber den Endspurt des Verhandlungsmarathons. In Umfragen rutschte die SPD auf ein Rekordtief von 18 und 19 Prozent ab - nach 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl im vergangenen September. „Wir schauen gerade nicht auf Umfragewerte, sondern darauf, dass wir hier zu guten Inhalten kommen“, sagte Schwesig.
In der SPD fürchten viele einen beschleunigten Absturz, wenn die Partei zum dritten Mal seit 2005 in eine große Koalition gehen und Merkel zur Kanzlerin wählen sollte. Anders als der SPD schadet der Union dem „Deutschlandtrend“ zufolge die schwierige Regierungsbildung bisher kaum. Sie kommt wie Anfang Januar auf 33 Prozent. Im ZDF-„Politbarometer“ liegt die Union aktuell bei 31 Prozent, zwei Punkte weniger als Mitte Januar.
Mit dem ersten Treffen der mehr als 90 Unterhändler starteten die Koalitionsverhandlungen am Freitagnachmittag in den entscheidenden Verhandlungsmarathon. Die Spitzen von Union und SPD hatten ursprünglich den Abschluss der Beratungen bis diesen Sonntag geplant, aber Montag und Dienstag als mögliche Puffertage festgelegt. Eine Verlängerung gilt in Teilnehmerkreisen als möglich.
"Es liegt noch ein sehr schweres Stück Weg vor uns", sagt Kanzleramtsminister Peter Altmaier beim Verlassen der SPD-Zentrale. Man arbeite aber mit Optimismus. Millionen von Menschen warteten auf eine Einigung. Die Gespräche am Freitag seien sehr gut gewesen, da für Familien, Bildung und neue Zukunftstechnologien etwas erreicht worden sei, fügt der geschäftsführende Finanzminister hinzu.
Debatte um "Obergrenze" beendet
Den Streit um Familiennachzug für Flüchtlinge haben Union und SPD nun endgültig beigelegt. Nach einer Diskussion in der großen Runde der Unterhändler von CDU, CSU und SPD teilte SPD-Vize Ralf Stegner am Freitagabend in Berlin mit, der Dissens sei beendet, es bleibe bei den Formulierungen aus dem gemeinsamen Sondierungspapier. Bei der Auseinandersetzung ging es um die Auslegung eines Maximalwerts für die Zuwanderungszahlen.
Ohne die CSU zu nennen, sagte Stegner, nach der Einigung auf das Sondierungspapier sei eine öffentliche Debatte geführt worden nach dem Motto, die SPD habe angeblich eine Obergrenze akzeptiert. „Das haben wir nicht.“ Die Unionsführung habe nun zugesagt, „auf diese Art irreführender Öffentlichkeitsarbeit zu Lasten der SPD zu verzichten. Dann muss man sich nicht an Formulierungen verkämpfen.“ Die SPD habe sich nicht über die Formulierung beschwert, sondern darüber, dass sie zu ihren Lasten missinterpretiert worden sei. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sagte der Deutschen Presse-Agentur auf Anfrage zu der Einigung beim Zuwanderungsthema: „Ich bin sehr zufrieden.“
Im geeinigten Ergebnispapier der Arbeitsgruppe „Migration und Integration“ heißt es nun wie im Sondierungspapier, Union und SPD stellten fest, dass die Zuwanderungszahlen „die Spanne von jährlich 180 000 bis 220 000 nicht übersteigen werden“. Die SPD wollte in der AG diesen Passus zuletzt in die Formulierung ändern, man stelle fest, „dass beim jetzigen Kenntnisstand zu erwarten ist, dass die Zuwanderungszahlen (...) für die nächsten Jahre bei jährlich insgesamt ca. 180 000 bis 220 000 liegen werden“. Nach der Einigung bleibt nun alles beim alten. Aus SPD-Kreisen hieß es bereits am Nachmittag, man wolle das Sondierungspapier lediglich präzisieren und stelle keine Nachforderungen.
Kindergrundrecht und Kindergelderhöhung
Eine abschließende Einigung gab es auch in der Familienpolitik. Die CDU-Politikerin Annette Widmann-Mauz sprach am Freitagabend von einem "wirklich starken Paket", das eine Kindergelderhöhung um 25 Euro in dieser Wahlperiode vorsehe. "Auf den allerletzten Metern heute haben wir uns einigen können auf ein Kindergrundrecht", sagt Bundesfamilienministerin Katarina Barley. Sie spricht von einem "ausgesprochen guten Ergebnis".
Eingeführt werden sollen zudem Gutscheine für Haushaltshilfen. Das solle besonders dazu genutzt werden können, dass jemand die Wohnung saubermache, wenn Betroffene dies selbst nicht so gut leisten könnten. Für Mieter soll es einen besseren Schutz davor geben, über teure Sanierungen aus der Wohnung gedrängt zu werden. „Wir werden noch ziemlich viel nacharbeiten müssen im Bereich Wohnen und Mieten“, sagte Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD) am späten Abend.
Am Samstag soll es Abstimmungen in wechselnden Formaten geben. Nach den unionsinternen Beratungen wird die 15-er Runde von 12.00 bis 16.00 Uhr tagen, zusammen mit den jeweils benötigten Mitgliedern der Arbeitsgruppen. Dann setzen sich die Unions-Vertreter der großen Runde zusammen. Ab 18.00 Uhr soll wieder die 15er Runde zusammen mit der SPD tagen.
Einigung in der Gesundheitspolitik erzielt
Im Kampf gegen schmutzige Diesel-Abgase ziehen die GroKo-Parteien nun technische Nachbesserungen an älteren Motoren in Betracht - aber nur unter Vorbehalt. Zur Reduktion der Stadtstoffemissionen aus dem Verkehr gehörten „sowohl - soweit technisch möglich und wirtschaftlich vertretbar - technische Verbesserungen von Fahrzeugen im Bestand als auch eine zügige Flottenerneuerung mit real emissionsarmen Fahrzeugen“, heißt es in einem Zwischenstand der Verhandlungen.
Parallel wollen Union und SPD den schleppenden Ausbau der Elektromobilität beschleunigen. So soll der Aufbau einer flächendeckenden Lade- und Tankinfrastruktur intensiviert werden, heißt es in einem dpa vorliegenden Papier. Für Firmen soll es Anreize bei der Dienstwagenbesteuerung und bessere steuerliche Abschreibungsregeln geben. Für Taxen und leichte Nutzfahrzeuge soll die bestehende Kaufprämie erhöht werden. Deutlich ausbauen wollen Union und SPD den Bahnverkehr. Mit einem „Schienenpakt“ von Politik und Wirtschaft sollten bis 2030 doppelt so viele Bahnkunden gewonnen und mehr Güter in Zügen transportiert werden.
In der Gesundheitspolitik einigten die Koalitionäre sich auf mehr Geld für Kliniken, mehr Landärzte und eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenkassen bereits ab 2019.
Elf Milliarden für die Bildung
n der Nacht zu Freitag hatten sich die Unterhändler bereits auf ein Bildungs-, Digital- und Forschungspaket geeinigt: Union und SPD wollen insgesamt elf Milliarden Euro in Bildung und Forschung investieren – von Kitas über Ganztagsschulen und berufliche Bildung bis zu Hochschulen. Vereinbart wurde etwa ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung von Grundschulkinder, eine stärkere Digitalisierung der Schulen, eine de- facto-Abschaffung des Kooperationsverbotes sowie die Bildung eines Nationalen Bildungsrats.
Der langjährige SPD-Wissenschaftsminister Jürgen Zöllner sagte dem Tagesspiegel: "Dieser Teil allein würde für die SPD eine große Koalition rechtfertigen, wenn es kein Lippenbekenntnis für die Partei ist, dass Bildung und Wissenschaft so wichtig sind." (mit dpa)