zum Hauptinhalt
Hanaa Singer leitet die Projekte des Kinderhilfswerks Unicef in Syrien.
© Thilo Rückeis

Konflikt in Syrien: Unicef: „Jedes Kind ist betroffen“

Generation Krieg: Ein Gespräch mit Hanaa Singer, Unicef-Direktorin in Syrien, über traumatische Erfahrungen, kaputte Schulen und die Sehnsucht nach Sicherheit.

Frau Singer, seit vier Jahren herrscht in Syrien Krieg. Wie müssen wir uns den Alltag der Menschen vorstellen?

Im Grunde sind alle Bereiche des Lebens unmittelbar von den Kämpfen betroffen. Schauen Sie sich zum Beispiel das Bildungswesen an. Jede fünfte Schule ist nicht nutzbar, schätzungsweise 50 000 Lehrer haben das Land verlassen. Ein Drittel des Gesundheitssektors existiert nicht mehr. Im Vergleich zu Kriegsbeginn steht nur noch die Hälfte des Trinkwassers zu Verfügung. Die Situation ist dramatisch, gerade aus Sicht der Heranwachsenden. Insgesamt leiden 14 Millionen Mädchen und Jungen im Nahen Osten unter diesem Konflikt. In Syrien ist sogar jedes Kind betroffen, zum Beispiel durch den Verlust von Angehörigen. Umso mehr bewundere ich, wie die Menschen mit der Situation umgehen.

Inwiefern?

Die Syrer zeichnet eine unglaubliche Widerstandsfähigkeit aus. Sie versuchen, aus der schlimmen Lage das Beste zu machen. Bemühen sich, ein normales Leben aufrechtzuerhalten. Auch die Hilfsbereitschaft beeindruckt mich immer wieder. Die Leute unterstützen sich gegenseitig. Und ich bewundere den Mut der verbliebenen Ärzte und Lehrer, die ungeachtet der Gefahren zum Beispiel durch Heckenschützen und Geiselnehmer ihren Job machen. Und das tagtäglich.

Es gibt noch so etwas wie Solidarität?

Auf jeden Fall, und das ungeachtet der Spannungen im Land. Muslime, Christen, Sunniten, Schiiten – jeder versucht, dem anderen beizustehen. Man fühlt sich einer Nation zugehörig. Die Herzen der Menschen mögen gebrochen worden sein. Ihr Geist, ihr Stolz ist es aber nicht.

Woran mangelt es am meisten?

Sicherheit, Sicherheit und nochmals Sicherheit.

Das heißt?

Es gibt nirgendwo im Land einen sicheren Ort. Wirklicher Schutz ist eine Illusion. Man kann jederzeit zum Opfer der Kämpfe werden. Katastrophale Zustände herrschen zudem im Gesundheitswesen. Und der Zugang zu Trinkwasser ist mehrfach als Kriegswaffe eingesetzt worden.

Fühlen sich die Syrer vom Westen im Stich gelassen?

Die Menschen verstehen nicht, warum am Ende immer sie allein die Leidtragenden sind. Die gegen das Land verhängten Sanktionen zum Beispiel treffen in erster Linie die einfachen Leute. Dabei sind die Mütter, Kinder und Väter doch gar nicht die Feinde. Die Syrer sehnen sich daher nach einem Zeichen des Mitgefühls, nach Unterstützung etwa in Form von Spenden. Und es braucht eine politische Lösung. Allein mit militärischen Mitteln kann dieser Konflikt nicht entschieden werden.

Die Mehrheit der Mädchen und Jungen kann wegen des Krieges nicht zur Schule gehen. Welche Folgen hat das?

Man muss sich vor Augen führen, dass gut drei Millionen Kinder eine Schule besuchen, aber zwei Millionen eben nicht. Und die Zahl der Jugendlichen, die keinen Unterricht erhalten, steigt. Wir müssen alles daransetzen, diese Kinder zu erreichen.

Wie soll das funktionieren?

Unicef hat eine neues Programm mit dem Namen „Out of School“ aufgelegt. Es ist wichtig, auch jenen, die nicht zur Schule gehen, Grundkenntnisse in vier Kernfächern zu vermitteln: Mathematik, Naturwissenschaften, Englisch und Arabisch. Damit das gelingt, verteilen wir Handbücher an die Haushalte. So können Angehörige als Lehrer fungieren. Wir müssen alles versuchen, dass die Kinder eine halbwegs vernünftige Schulbildung bekommen. Dazu gehört, dass wir selbst die Schulbücher drucken, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt. Anderenfalls könnte uns eine ganze Generation verloren gehen. Und es ist eben möglich, im Land selbst zu helfen, auch wenn man das kaum glauben mag.

Auch außerhalb des Bildungssektors?

Aber sicher! Unicef kümmert sich zum Beispiel darum, dass Millionen Menschen Zugang zu sauberem Wasser haben. Uns ist es auch gelungen, durch Impfungen die Verbreitung von Polio zu stoppen, das gilt gleichfalls für Masern. Und nicht zu vergessen: Zehntausende Kinder, die durch den Krieg traumatisiert sind, bekommen psychologische Hilfe. Das alles sind Investitionen in eine hoffentlich bessere Zukunft.

Das Gespräch führte Christian Böhme.

Zur Startseite