Nach dem Abzug aus Afghanistan: Und wenn die USA nie mehr als Führungsmacht auf die Weltbühne zurückkommen?
Europa oder China könnten das Vakuum nicht füllen - dann gäbe es globale Anarchie. Daher müssen die USA als Erster unter Gleichen führen. Ein Gastbeitrag.
Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Universität Stanford.
„Amerika ist zurück", sagte Präsident Joe Biden Anfang des Jahres, und die gesamte demokratische Welt atmete erleichtert auf. Doch während wir das Debakel des chaotischen Rückzugs der Vereinigten Staaten aus Afghanistan beobachten - Kabul als Saigon Nr. 2 - flüstert uns eine geisterhafte Stimme zu: Was, wenn Amerika nicht zurückkehrt? Was ist, wenn es nie wieder auf die Weltbühne zurückkommt? Was passiert dann? Das chinesische Jahrhundert? Europa als neuer Anführer der freien Welt? Oder einfach nur die alte internationale Anarchie?
Wenn es doch nur so wäre wie nach Saigon 1975. Die Demütigung der USA in Vietnam, die auf die Watergate-Affäre folgte, markierte einen Tiefpunkt für das Ansehen der USA in der Welt. Doch innerhalb eines Jahrzehnts waren die USA zurück. Bis 1995 schienen sie den Globus als unangefochtene "Hypermacht" zu beherrschen.
Jeder weiß, dass es dieses Mal anders ist. Die selbstverschuldeten innenpolitischen Probleme der Vereinigten Staaten sind zehnmal tiefgreifender und struktureller als Mitte der 1970er Jahre - zum Teil deshalb, weil sie, dem Muster überdehnter Imperien im Laufe der Geschichte folgend, Billionen von Dollar in Ländern wie Afghanistan und dem Irak ausgegeben haben, anstatt in die vernachlässigte Infrastruktur, das Bildungswesen und Gesundheitspflege des eigenen Landes zu investieren.
Im Ausland sind die USA nicht mit einer untergehenden leninistischen Supermacht, der Sowjetunion, konfrontiert, sondern mit einer aufsteigenden leninistischen Supermacht, China. Der Klimawandel ist jetzt die einzige Hypermacht.
Alle Alternativen zur einer Führung der USA sind für Demokratien schlechter
Realistischerweise kann man höchstens erwarten, dass die Vereinigten Staaten als führende westliche Macht auf der internationalen Bühne "zurückkehren", als erste unter Gleichen in einem globalen Netzwerk von Demokratien. Die Verbitterung über schlechtes Verhalten der USA in der Vergangenheit in der Welt, bis hin zur aktuellen Tragödie, sollte keinen Demokraten die Augen davor verschließen lassen, dass alle denkbaren Alternativen zu diesem Szenario schlechter sind. Und die Regierung Biden ist die beste Chance, die wir haben, dass die USA in dieser Weise auf die Weltbühne zurückkehren.
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Man stelle sich vor, die erbärmliche, korrupte, von den USA finanzierte afghanische Regierung und ihre angeblich 300 000 Mann starke, von den USA ausgebildete Armee hätten noch ein paar Wochen länger durchgehalten, und es hätte einen geordneten Abzug gegeben, ohne dass Chinook-Hubschrauber über dem Flachdach einer Botschaft in der Luft stehen - dieses eine Bild ist mächtiger als eine Million Worte. Sicherlich hätte es viel Unzufriedenheit und ein Gefühl des Scheiterns gegeben. Aber wir hätten darüber sinniert, dass der erfahrene US-Präsident nüchtern einen knallharten Plan umsetzt, um Amerika international wieder in eine bessere strategische Position zu bringen für die drei großen Herausforderungen, die er identifiziert hat: Covid, Klima, China.
Es ist immer noch möglich, dass den USA dies trotz des Afghanistan-Debakels gelingen wird. Ereignisse, wie bekanntlich Objekte, sehen aus der Nähe immer größer aus. Diese Szenen auf dem Flughafen von Kabul werden nie vergessen werden, aber mit der Zeit werden sie möglicherweise aus einer anderen Perspektive gesehen.
China wird Asien dominieren, aber nicht zur vorherrschenden Weltmacht
Nichtsdestotrotz ist dies ein Moment, um über die undenkbare Alternative nachzudenken: dass die USA nie wieder eine internationale Führungsposition einnehmen könnten. Was dann? China wird mit ziemlicher Sicherheit zu einer dominierenden Macht in Asien, aber nicht zur vorherrschenden Macht. Japan, Indien und Australien, ganz zu schweigen von den Vereinigten Staaten, die weiterhin im indopazifischen Raum präsent sind, werden alles daransetzen, dies zu verhindern.
In China selbst werden die Widersprüche zwischen einem zunehmend leninistischen politischen System, in dem die Macht nicht nur in den Händen einer Partei, sondern eines einzigen Mannes konzentriert ist, und einer komplexen, entwickelten kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft früher oder später zu einer eigenen internen Krise führen. Die Suche nach mehr nationalistischer Legitimität durch Abenteuer im Ausland könnte die unmittelbare Folge sein: Vorsicht, Taiwan.
Aber dies ist keine Formel für ein "chinesisches Jahrhundert", so wie man in gewisser Weise zu Recht von einem "amerikanischen Jahrhundert" sprechen konnte - oder zumindest von den zwei amerikanischen Jahrzehnten zwischen 1989 und 2009 - und davor von einem "britischen Jahrhundert". China übt in einigen europäischen Ländern bereits großen Einfluss aus, aber es wird nicht die führende Macht in Europa werden. Noch viel weniger wird dies Russland gelingen, obwohl sich Präsident Wladimir Putin, ebenso wie der chinesische Präsident Xi Jinping, zweifellos über diesen jüngsten Rückschlag der USA freuen wird.
Wie wäre es also mit einem optimistischeren Szenario, das französische Herzen höherschlagen ließe? Wie wäre es, wenn Europa in die Bresche springt? Die EU wird zum Anführer der freien Welt! In Umkehrung des berühmten Diktums des ehemaligen britischen Außenministers George Canning rufen wir die alte Welt zusammen, um das Gleichgewicht in der neuen Welt wiederherzustellen.
Das ist eine großartige Idee. Als englischer Europäer würde ich so etwas sehr gerne sehen. Gemeinsam mit Freunden aus ganz Europa habe ich viel Zeit damit verbracht, im European Council on Foreign Relations zu arbeiten, um eine kohärentere und effektivere europäische Außenpolitik zu fördern. Aber damit sieht es nicht besonders gut aus.
Macron hat die nötige Vision für eine Führungsmacht Europa, aber nicht die Mittel
Ein Politiker in Europa, der französische Präsident Emmanuel Macron, hat die nötige Vision, aber nicht die Mittel. Die möglichen Nachfolger von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach den Wahlen im September haben die Mittel, aber nicht die Vision. Großbritannien ist gerade erst aus dem Club ausgetreten, und nun beschweren sich führende britische Konservative lautstark darüber, dass die USA uns in Afghanistan im Stich gelassen haben. Das ist wohl kaum ein Rezept für globale Führung.
Damit bleibt eine dritte globale Alternative: internationale Anarchie. Konkurrierende Großmächte, Stämme und Interessen. Eine "G-Null"-Welt, wie sie der geopolitische Analyst Ian Bremmer genannt hat. Schlimmstenfalls eine Art Afghanistan im großen Stil. Ganz abgesehen von dem Elend, das dies für Millionen von Menschen bedeuten würde, besteht dann die Gefahr, dass der Planet verbrennt. Die apokalyptischen Waldbrände dieses Sommers auf den griechischen Inseln und die Überschwemmungen in Deutschland, ganz zu schweigen von den jüngsten eindringlichen Warnungen der Klimawissenschaftler, machen deutlich, dass wir ein viel stärkeres Maß an kollektivem globalen Handeln benötigen, um die Klimakrise zu bewältigen. Doch die geopolitische Lage erschwert ein solches gemeinsames Handeln.
Vor kurzem habe ich den amerikanischen Science-Fiction-Film „Arrival“ gesehen, in dem krakenähnliche Außerirdische in den USA, Russland, China, Saudi-Arabien und anderen wichtigen Weltmächten landen. Ihr Ziel ist es, die sich bekriegenden Stämme der Menschheit zur Zusammenarbeit zu bewegen, denn "wir werden euch in 3500 Jahren brauchen". Und, weil dies ein amerikanischer Film ist, haben sie Erfolg.
In der Abwesenheit von hellsichtigen intergalaktischen Kraken liegt es jedoch allein an uns. Nimmt man das gesamte große Bild in den Blick, dann erfordert dieser geopolitische Moment das aktive Engagement von Europa und China, Indien, Japan, Australien und vielen anderen. Und die USA müssen wieder eine führende Rolle im Kreise der Demokratien spielen, nicht mehr als Hegemon, sondern als Erster unter Gleichen. Ein Entwicklungsökonom stellte einmal erbarmungslos fest, dass es für arme Länder nur eine Sache gibt, die schlimmer ist, als ausgebeutet zu werden: nicht ausgebeutet zu werden. Nicht nur für den Westen, sondern für eine insgesamt bedrohte Welt gilt : Es gibt nur eine Sache, die schlimmer ist als amerikanische Führung: fehlende amerikanische Führung.