US-Präsident zum Afghanistan-Desaster: Kühler Biden verweigert Selbstkritik
Erstmals äußert sich der US-Präsident zu Afghanistan. Biden gibt der entmachteten Führung die Schuld für die Krise. Zu viele Frage bleiben offen. Ein Kommentar.
Sechs Tage hat der US-Präsident seine Bürger warten lassen. Angesichts der sich minütlich zuspitzenden Lage in Afghanistan eine halbe Ewigkeit. Fast eine Woche lang ließ der 78-Jährige nur Erklärungen und Fotoaufnahmen von sich in Camp David verbreiten, die zeigen sollten, dass er alles im Griff hat.
Als Joe Biden dann am Montagnachmittag im East Room des Weißen Hauses vor die Kameras trat, waren die Erwartungen an seine Erklärung schier ins Unermessliche gestiegen. Was würde der Präsident des mächtigsten Landes dazu sagen, dass alle seine Experten in Militär und Geheimdiensten die Lage am Hindukusch offenbar so komplett falsch eingeschätzt hatten, dass sogar Helikopter für die Evakuierung des Botschaftspersonals eingesetzt werden mussten?
Wie würde er rechtfertigen, dass Wochen und Monate verstrichen sind, ohne dass den afghanischen Hilfskräften der Amerikaner eine wirkliche Option angeboten werden konnte, wie sie sich selbst und ihre Familien in Sicherheit bringen konnten? Warum konnten Büromöbel und Kaffeemaschinen ausgeflogen werden, aber keine Menschen in Lebensgefahr?
Warum hat Biden dem afghanischen Präsidenten vertraut?
Wie würde er den Vorwurf entkräften, dass die Amerikaner sich nur so lange für ihre Alliierten interessieren, wie es ihnen nutzt? Wie widerlegen, dass sie ein ums andere Mal Menschen im Stich lassen, die keinen amerikanischen Pass besitzen?
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Warum, eine andere offene Frage, hatte Biden offensichtlich so viel falsches Vertrauen in den afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani gesetzt, diesem Glauben geschenkt, dass die afghanische Regierung und das ihr unterstellte Militär die Lage im Land auch nach einem Abzug der Amerikaner kontrollieren könnten? Er, der sich gerne rühmt, über mehr politische Erfahrung zu verfügen als die meisten anderen?
Angesichts all dieser offenen Fragen, die in den Medien, den sozialen Netzwerken und vielen privaten Gesprächen fassungslos rauf- und runterdiskutiert werden, war der rund 20-minütige Auftritt Bidens enttäuschend. Ein kleiner Einschub, man habe die Geschwindigkeit des Vorstoßes der Taliban falsch eingeschätzt, war alles, was die Amerikaner und der Rest der Welt an Selbstkritik des US-Präsidenten zu hören bekamen.
Schuld seien vor allem die Afghanen
Für das Desaster, so Biden, trügen vor allem die Afghanen selbst die Verantwortung: „Wir haben den Afghanen alle Möglichkeiten gegeben, damit sie ihre Zukunft selbst bestimmen können. Was wir ihnen nicht geben konnten, war der Wille, für diese Zukunft zu kämpfen“, erklärte der Präsident.
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Völlig falsch ist diese Meinung angesichts einer sich in Luft aufgelösten afghanischen Armee und einer gleich zu Beginn des Endspiels geflohenen Regierung nicht. Allerdings beantwortet das nicht die Frage, warum die Biden-Regierung das Gegenteil annehmen konnte. Und nicht jeder Afghane, und vor allem: jede Afghanin hat die Möglichkeit, für die eigene Zukunft zu kämpfen.
Viel zu wenig Empathie für das Schicksal vieler Afghanen zeigt der US-Präsident, der sich ansonsten gar nicht mitfühlend genug geben kann. Dass Biden sich nicht scheut, in der Öffentlichkeit Tränen zu vergießen, wurde ihm nach vier Jahren Donald Trump als Stärke ausgelegt: Endlich wieder ein Mensch im Weißen Haus, hieß es. Umso größer fällt die Enttäuschung aus, dass sein Mitgefühl offenbar an den eigenen Landesgrenzen endet.
Die ungewohnte Kühle erstaunt
Wem es angesichts der dramatischen Bilder und Hilferufe aus Afghanistan der vergangenen Tage nicht zumindest zeitweise die Sprache verschlägt, muss schon sehr hart im Nehmen sein. Bidens ungewohnte Kühle erstaunt daher besonders.
Inwieweit es die große Masse der Amerikaner wirklich bewegt, ist allerdings eine andere Frage. In Umfragen, die kurz vor der Eskalation der vergangenen Tage durchgeführt wurden, äußerten mehr als zwei Drittel der Befragten Zustimmung zu den Abzugsplänen der US-Regierung – und das parteiübergreifend. Die Amerikaner sind kriegsmüde, nicht erst seit diesem Jahr.
Auch daher kann man durchaus bezweifeln, dass das Afghanistan-Debakel der Biden-Regierung wirklich langfristig schaden wird. Angesichts des großen Desinteresses vieler Amerikaner an außenpolitischen Entwicklungen verneinen nicht wenige dies. Vier Jahre Donald Trump und dann noch eine weltweite Pandemie obendrauf haben ihre Spuren hinterlassen.
So viel politische Erfahrung
Festhalten lässt sich zumindest, dass Biden nicht erst seit seinem Amtsantritt im Januar die Auffassung vertritt, dass der Afghanistan-Konflikt militärisch nicht zu lösen ist. Hier bleibt er sich auch als Oberbefehlshaber der schlagkräftigsten Armee der Welt treu. Das Argument, ein passender Zeitpunkt für einen Abzug sei wohl nie zu finden, hat durchaus Gewicht.
Aber selbst viele, die Biden gewählt haben und ein Ende des längsten Kriegseinsatzes der USA befürworteten, kritisieren, dass es so nicht hätte enden dürfen. Dass man von einer derart mächtigen Nation dann doch eine bessere Planung erwartet habe. Und von einem Präsidenten, der über Jahrzehnte politischer Erfahrung verfügt.
Wenn Biden gehofft hat, der nur unter Druck möglich gewordene Auftritt am Montag würde die Gemüter beruhigen, könnte er sich geirrt haben. Die nächsten Tage und Wochen werden für ihn wohl eher ungemütlich. Aber auch das hätte er wissen können.