Reuter-Rede vor 70 Jahren: Und die Völker der Welt schauten auf Berlin
Am 9. September 1948 hielt Ernst Reuter, der Bürgermeister von Berlin, am Reichstag vor 350.000 Menschen seine historische Freiheitsrede. Ein Rückblick.
Mit leidenschaftlichen Appellen kann man den Lauf der Geschichte beeinflussen. Reden als Dokumente des Freiheits- und Selbstbehauptungswillens wirken manchmal über viele Jahrzehnte. Winston Churchills erste Ansprache als Premierminister vor dem Unterhaus angesichts der Schlacht um Frankreich, am 13. Mai 1940, in der er den Engländern sagte, der Kampf um die Freiheit würde Blut, Schweiß und Tränen kosten, gehört dazu.
Auch Martin Luther Kings Vision der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, vor 250.000 Menschen am 28. August 1963 unter dem wiederkehrenden Satz „I have a Dream“ formuliert, ist ein solches Dokument. In Deutschland gehört Wolfgang Schäubles Rede vom 20. Juni 1991 zur künftigen Hauptstadt des wiedervereinten Deutschland als historisches Zeugnis in eine solche Reihe. Und dann ist da jene das Gewissen der Weltöffentlichkeit beschwörende Rede des Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reuter, am 9. September 1948.
Die Luftbrücke wäre wohl nicht durchgehalten worden
Das war vor 70 Jahren, und er riss nicht nur die 350.000 Menschen auf dem Gelände vor dem Gebäude des Reichstags mit. Ohne seinen aufrüttelnden Appell, West-Berlin nicht dem Kommunismus und der Sowjetunion preiszugeben, hätten die drei West-Alliierten vermutlich nicht die Luftbrücke, die am 24. Juni aufgenommen worden war, bis zu ihrem triumphalen Erfolg, dem Ende der Blockade am 12. Mai 1949, durchgehalten.
Die Zweifel, ob die Versorgung einer Millionenstadt auch über den Winter nur aus der Luft überhaupt möglich sein würde, waren groß. Aber Ernst Reuters voll Leidenschaft vorgetragener Schlusssatz, „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“, überzeugte Amerikaner, Franzosen und Engländer, dass der Freiheitswillen der Berliner stark genug sei, das Wagnis einzugehen.
Was war das für eine Zeit? Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hatten die USA, die Sowjetunion und Großbritannien die Aufteilung Deutschlands nach der zu erwartenden Kapitulation beschlossen. Eine Regelung für Zugang zu den Westsektoren Berlins trafen sie jedoch nicht.
Es gab zunehmend Behinderungen durch die Russen
Erst im November 1945 sicherten die sowjetischen Vertreter im Alliierten Kontrollrat, der für ganz Berlin zuständig war, den drei Westmächten Luftkorridore von Hamburg, Frankfurt am Main und Hannover nach Berlin zu. Im Juni 1946 wurde auch die eingeschränkte Nutzung der Wasserwege nach West-Berlin akzeptiert. Über eine Zug- und Straßenverbindung von und nach Berlin verständigte man sich zunächst nur ab Helmstedt-Marienborn.
Immer öfter aber äußerten sowjetische Vertreter im Kontrollrat und an anderen Stellen die Ansicht, eigentlich sei die gesamte ehemalige Reichshauptstadt ein Teil der den Russen zugesprochenen Besatzungszone. Entsprechend gab es zunehmend Behinderungen auf den Zugangswegen. Züge wurden zurückgeschickt, Wasserstraßen gesperrt. Körperliche Angriffe auf West-Berliner Vertreter in der gesamtstädtischen Verwaltung waren an der Tagesordnung. Eines der Ergebnisse der sowjetischen Subversionspolitik war, dass der gewählte Regierende Bürgermeister, Ernst Reuter, sein Amt nicht offiziell antreten durfte.
Hinzu kamen wachsende Differenzen zwischen den drei Westalliierten auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite über Grundzüge einer gemeinsamen Deutschlandpolitik. Als die USA, Großbritannien und Frankreich im Juni 1948 eine Währungsunion verkündeten, die entgegen zunächst anderer Planung die drei Westsektoren einschließen sollte (die UdSSR hatte eine Beteiligung abgelehnt), war dies der Auslöser für die Blockade West-Berlins. Sie begann am 24.Juni 1948 mit der Kappung der Stromversorgung.
Lucius Clay warnt am ersten Tag der Blockade seine Regierung
Die Blockade überraschte die westlichen Schutzmächte. Aber sie hatten glücklicherweise in Lucius D. Clay, dem US-Militärgouverneur für Deutschland, einen genialen Organisator. Dem imponierte der Widerstandswille der Berliner gegen die russische Umklammerung der Stadt. Clay warnte bereits am ersten Tag der Blockade seine Regierung in Washington: „Würde sich Amerika aus Berlin zurückziehen, dann würde das Krieg bedeuten.“
Lucius Clay blieb für die Berliner die amerikanische Symbolfigur. 13 Jahre später, eine Woche nach dem Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961, stand Clay neben dem amerikanischen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson auf den Stufen des Schöneberger Rathauses, um den Berlinern zu signalisieren: Wir verlassen euch nicht. John F. Kennedy hatte ihn nach Berlin geschickt.
Der Luftbrücke während der Blockade West-Berlins gelang es, die Bevölkerung der Stadt zu versorgen. Es gab zwar erhebliche Einschränkungen in der Lebensführung, aber keine akute Not. Die Luftbrücke dauerte 322Tage. In dieser Zeit wurden mehr als 270.000 Flüge durchgeführt, mit denen auch 1,44 Millionen Tonnen Kohle nach Berlin transportiert wurden. In Spitzenzeiten fanden in 24 Stunden fast 1400 Flüge statt. Als die Sowjetunion schließlich in der Nacht vom 11. auf den 12. Mai 1949 die Blockade beendete, war dies das Eingeständnis, dass der Widerstandswille der Berliner so nicht zu brechen gewesen war.
Von der gewaltigen Menschenmasse waren sie überrascht
All das ahnte man am Beginn der Blockade noch nicht. Die Alliierten fürchteten, die Versorgung einer Millionenstadt aus der Luft würde scheitern. Den Berliner Politikern blieben die Zweifel der West-Alliierten nicht verborgen. Dies war die Situation, in der die Repräsentanten des freien Teils der Stadt zu der Kundgebung vom 9. September 1948 vor dem Reichstag aufriefen.
Von der gewaltigen Menschenmasse waren sie selbst überrascht und wohl auch überwältigt. Nicht nur Ernst Reuter redete an diesem Tag. Aber er blieb der Einzige, dessen Worte wohl auch wegen der Eindringlichkeit, mit der sie vorgetragen wurden, in die Geschichtsbücher eingingen.
„Heute ist der Tag, wo das Volk von Berlin seine Stimme erhebt. Dieses Volk von Berlin ruft heute die ganze Welt. Wenn heute dieses Volk von Berlin zu Hunderttausenden hier aufsteht, dann wissen wir, die ganze Welt sieht dieses Berlin… In dieser Stadt ist ein Bollwerk, ein Vorposten der Freiheit aufgerichtet, den niemand ungestraft preisgeben kann.“
John F. Kennedy knüpft an die Reuter-Rede an
Die Aufmerksamkeit für diese und andere Reuter-Reden aus der Zeit der Blockade als Freiheitsrufe der Berliner Bevölkerung, die sich einer kommunistischen Diktatur nicht unterwerfen wolle, setzte schnell, aber nicht sofort ein. Auch der Berichterstatter des Tagesspiegels – die Zeitung widmete in der Ausgabe vom 10. September die halbe Seite 1 dem Ereignis vor dem Reichstag – griff jenen dramatischen Appell nicht wortgenau auf, der seitdem Teil des Kanons der Zeugnisse deutschen Selbstbehauptungswillens ist.
Dahin gehören auch jene Worte, die kein Deutscher, sondern John F. Kennedy wählte, 15 Jahre nach Reuters Ansprache. Das war am 26. Juni 1963 auf den Stufen des Schöneberger Rathauses, und er knüpfte damit direkt an die Reuter-Rede an. Wo Reuter 1948 leidenschaftlich gefordert hatte: „Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt“, wechselt Kennedy nun die Perspektive.
Er nimmt die Rolle der damals von Reuter angerufenen Völker ein und beendet seine Ansprache so: „Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-Berlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner.“
Am Todestag stellen die Berliner Kerzen in die Fenster
Als der Fischer-Verlag 1959 in einem Band „Proklamationen der Freiheit“ des abendländischen Kulturraumes versammelte, führte er allein fünf der Blockadereden Reuters auf. Die vom 9. September 1948 war nicht dabei. Was nur beweist, dass die damalige Botschaft des Stadtoberhauptes keine für den Tag, sondern für seine Stadt, für die Welt, weit über den Anlass hinaus war. Wäre der Begriff nicht so verbraucht, würde man sie schlicht ein Bekenntnis nennen.
Als Ernst Reuter starb, am 29. September 1953, stellten die Berliner Kerzen in die Fenster. Am Weg des Trauerzuges zum Zehlendorfer Waldfriedhof standen Hunderttausende.