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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr heutiger Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) haben 2007 das deutsche Klimaziel für das Jahr 2020 formuliert. Die Treibhausgasemissionen sollen im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent sinken. Gabriel war damals noch Umweltminister. Die beiden Politiker reisten 2007 nach Grönland, um sich vor schmelzenden Gletschern fotografieren zu lassen, und ihren Willen zum Klimaschutz zu bezeugen.
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Update

Verfehlt Deutschland sein Klimaziel?: Umweltministerin Hendricks fordert Vizekanzler Gabriel heraus

Am 3. Dezember soll das Kabinett einen Klimaaktionsplan beschließen. Bis 2020 will Deutschland 40 Prozent weniger Treibhausgase im Vergleich zu 1990 ausstoßen. Das werde nicht gehen, ohne Kohlekraftwerke vom Netz zu nehmen, sagt Umweltministerin Barbara Hendricks. Gewerkschaft warnt vor Jobverlusten.

Es ist das erste Mal seit ihrem Amtsantritt, dass Umweltministerin Barbara Hendricks so etwas wie eine Kampfansage an Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (beide SPD) richtet. Am Montagmorgen ließ sie keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht auf ein Klimaaktionsprogramm einlassen will, mit dem das deutsche Klimaziel bis 2020 nicht erreicht wird. Derzeit bereiten die Ministerien ein Aktionsprogramm vor, um die vom Umweltbundesamt und mehreren Gutachtern bestätigte Lücke zu diesem Ziel zu decken. Am 3. Dezember soll das Kabinett darüber abstimmen.
Gabriel, damals Umweltminister, und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatten 2007 mit dem Meseberger Klimaprogramm das Ziel ausgegeben, dass Deutschland bis 2020 seine Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent vermindern werde. Nun tut sich Deutschland schwer damit, dieses Ziel einzuhalten. Die Europäische Umweltagentur (EEA) hat gerade besorgt festgestellt, dass Deutschland mit Luxemburg und Polen nicht auf Kurs ist. Alle drei Länder hätten 2013 einen höheren Treibhausgasausstoß verzeichnet, als sie prognostiziert hätten. Deutschland ist nach EEA-Angaben auch bei der Energieeffizienz weit von den eigenen Zielvorgaben entfernt.
Von Europa kann Deutschland keine Hilfe erwarten. Zwar hat Barbara Hendricks am Montag erneut gefordert, den europäischen Emissionshandel schon bis 2017 zu reparieren. Doch dafür gibt es über Großbritannien hinaus kaum Unterstützung aus anderen EU-Mitgliedsstaaten. Deshalb gibt es im Wirtschaftsministerium einige Fachleute, die eine Zielverfehlung für wahrscheinlich halten oder zumindest befürchten.
Das will Hendricks aber nicht hinnehmen. „Es wird nicht anders gehen. Wir werden auch Kohlekraftwerkskapazitäten abbauen müssen“, sagte sie am Montag. Dabei werde auf die Arbeitsplätze und die schwierige Lage der Energieversorger geachtet, meinte sie weiter. „Ich bin zuversichtlich, dass diese Aufgabe vom Wirtschaftsministerium“ bis zum Kabinettsbeschluss „gelöst werden kann“, sagte sie.

Das sieht die Gewerkschaft IG BCE ganz anders. „Es ist unzumutbar, weitere Kraftwerke stilllegen zu wollen - ohne eine überzeugende Antwort zu geben, was das für Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Energiepreise und Versorgungssicherheit hätte“, sagte der Chef der Gewerkschaft Michael Vassiliadis bei einer Kundgebung in Leverkusen. „Das ist kein langfristiger, geordneter und akzeptabel gestalteter Strukturwandel, das ist eine Kombination aus wirtschaftlichem Wildwest und politischem Chaos.“ In der konventionellen Stromerzeugung arbeiten nach Schätzungen bundesweit rund 60 000 Menschen. Tausende dieser Jobs sind nach Überzeugung der Gewerkschaft bedroht.

Ein Weckruf vom Weltklimarat

Am Wochenende hat der Weltklimarat IPCC eine umfangreiche Argumentationshilfe vorgelegt, warum beim Klimaschutz nicht nachgelassen werden darf. Barbara Hendricks sagte am Montag: "Wir wissen genug, um zu handeln." Wie groß die Aufgabe ist, beschreibt Wolfgang Lucht, der im Potsdam Institut für Klimafolgenforschung die Abteilung Erdsystem-Analyse leitet. Um den Klimawandel zu begrenzen müsse in Deutschland bis 2050 eine "weitgehend emissionsfreie Gesellschaft" erreicht sein, sagte er dem Tagesspiegel. "Die 40 Prozent sind nur ein Schritt auf dem Weg zu 80 bis 95 Prozent Emissionsminderung", sagt er mit Blick auf das deutsche Klimaziel. Entscheidend sei, dass die Wirtschaft klare Signale bekomme und nicht "immer wieder neu verhandelbare Ziele". Denn dann würden diejenigen bestraft, die früh angefangen hätten, in den Klimaschutz zu investieren. Mit Blick auf den langfristigen Klimaschutz hält Lucht es für keine gute Idee, "auf fossile Übergangstechniken" zu setzen.

Der Leiter der IPCC-Arbeitsgruppe drei, Ottmar Edenhofer, hat nach 36 Stunden ohne Schlaf bei den Verhandlungen über den Synthesebericht des Weltklimarats in Kopenhagen eine "andere Form der Realität entdeckt".
Der Leiter der IPCC-Arbeitsgruppe drei, Ottmar Edenhofer, hat nach 36 Stunden ohne Schlaf bei den Verhandlungen über den Synthesebericht des Weltklimarats in Kopenhagen eine "andere Form der Realität entdeckt".
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Lucht argumentiert wie sein Kollege Ottmar Edenhofer, der die Arbeitsgruppe drei des IPCC leitet, dass der Umbau zwar Probleme mache, aber "ein Leben mit dem Klimawandel ist schwieriger, da unberechenbarer und teurer". Edenhofer sagte am Montag, die Risiken des Klimaschutzes vom Einsatz der Bioenergie bis zur unterirdischen Verpressung von Kohlendioxid (CCS) seien "mit einer klugen Politik beherrschbar". Eine ungebremste Erderwärmung dagegen wäre nicht mehr rückholbar und würde die Bemühungen um eine Anpassung an den Klimawandel schnell an ihre Grenzen führen. Lucht nennt als wesentliche Gefahren eine Veränderung der "Zirkulationsmuster". Damit meint er, dass sich Luftströmungen und Meeresströmungen so verändern könnten, dass es regional zu "erheblichen Klimaverschiebungen" kommen könnte. Das zweite relevante Risiko seien "Kippelemente im Klimasystem". Als Beispiel nennt Lucht die Eisbedeckung Grönlands. Würde er in einen irreversiblen Schmelzprozess eintreten, würde der globale Meeresspiegel allein dadurch um etwa sieben Meter steigen. Dieser Prozess würde sich langsam, aber unaufhaltsam, vollziehen. Als drittes Risiko nennt Lucht die Verschiebung von Klimazonen mit großen Auswirkungen auf Landschaften und Ökosysteme. Lucht sagt: "Es ist extrem wichtig, dass Deutschland seinen Weg weiter geht. Die ganze Welt schaut auf die deutsche Energiewende." Lucht gibt zu Bedenken, dass die "Krise unseres Naturkapitals" nicht "wie die Bankenkrise mit ein paar 100 Milliarden Euro" zu bewältigen wäre.

"Was wäre das für ein Signal?"

Achim Steiner, Direktor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Unep), hat schon vor dem Klimagipfel des UN-Generalsekretärs Ban Ki Moon am 21. September in New York die Befürchtung geäußert, dass Deutschland sein Klimaziel für 2020 "möglicherweise nicht erreichen" könnte. Das sagte er bei einem Besuch in Berlin im Vorfeld des Klimagipfels. Steiner erkannte an, dass es für Deutschland nicht einfach sein würde, das Ziel zu halten, wenn der Emissionshandel zur Erreichung des Ziels nichts weiter beiträgt. Schließlich sind etwa die Hälfte der deutschen Emissionen im europäischen Zertifikatesystem enthalten. "Doch das sind doch keine unlösbaren Probleme", gab er zu Bedenken.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und das Potsdamer Nachhaltigkeitsinstitut IASS haben deshalb schon im Sommer einen Diskussionsbeitrag zur Einführung von Mindestpreisen für Kohlendioxid vorgelegt. Wenn er europäisch nicht durchzusetzen ist, sollte er wenigstens national erwogen werden, forderten die Institute. Sie haben zudem überprüft, wie sich technische Mindestanforderungen oder andere mögliche Regulierungsvarianten umsetzen ließen.

Die Klimaexpertin der Umweltstiftung WWF, Regine Günther, blickt ebenfalls besorgt auf den 3. Dezember. Sie warnt das Kabinett davor ein Aktionsprogramm zu beschließen, mit dem das Klimaziel verfehlt würde. "Was wäre das international für ein Signal, wenn der Klimavorreiter vor dem entscheidenden Klimagipfel in Paris 2015 kapituliert", fragt sie. Der WWF fordert deshalb die Einführung eines Mindestpreises für Kohlendioxid-Zertifikate im Emissionshandel. Wie das wirken würde, hat der WWF vom Öko-Institut untersuchen lassen. Großbritannien hat bereits einen Mindestpreis für Kohlendioxid (CO2) eingeführt. Die Niederlande haben zusätzlich zum Emissionshandel eine Kohlesteuer eingeführt, die wieder abgeschafft werden soll, wenn im Gegenzug alte Kohlekraftwerke stillgelegt werden.

Was würde ein Mindestpreis für CO2 bringen?

Felix Matthes, Energieexperte des Öko-Instituts hat ausgerechnet, dass 30 Millionen Tonnen CO2 in der deutschen Klimabilanz auf die Exporte von Kohlestrom zurückzuführen sind. Diese Exporte mindern die CO2-Bilanz der Nachbarstaaten, die den Strom kaufen. Außerdem analysiert Matthes, dass zu Beginn des europäischen Emissionshandels ein Preis von fünf bis zehn Euro pro Tonne CO2 genügt hat, um einen Umstieg von Kohle auf Gas als Brennstoff lukrativ zu machen. Doch seither sind die Öl- und im Gefolge die Gaspreise dramatisch gestiegen und die Kohlepreise weltweit gesunken. Inzwischen müsste der Preis bei etwa 35 Euro pro Tonne CO2 liegen, um Unternehmen einen Anreiz zum Brennstoffwechsel zu geben. Das Ergebnis der Öko-Instituts-Analyse ist relativ ernüchternd. Bei einem Mindestpreis von 20 Euro pro Tonne CO2 in Deutschland würde zwar die deutsche Klimabilanz um 18 Millionen Tonnen CO2 besser ausfallen. Doch die Nachbarstaaten würden in diesem Fall einspringen und 17 Millionen Tonnen mehr CO2 ausstoßen. Der klimapolitische Gewinn läge gerade mal bei einer Million Tonnen CO2. Bei einem Mindestpreis von 30 Euro pro Tonne in Deutschland wäre der Effekt kaum anders, sagt Matthes. In dieser Preiskategorie komme es lediglich zu Verlagerungseffekten.

Eine echte Veränderung der Treibhausgasemissionen würde demnach erst bei einem Preis von 40 Euro pro Tonne eintreten. Dann würden die CO2-Emissionen in Deutschland um 42 Millionen Tonnen sinken, in den Nachbarländern um 33 Millionen Tonnen ansteigen und einen klimapolitischen Nutzen von neun Millionen Tonnen CO2 erbringen. Bei 50 Euro sähe die Bilanz ebenfalls positiv aus. Die CO2-Emissionen in Deutschland würden um 61 Millionen Tonnen sinken, die im benachbarten Ausland um 37 Millionen Tonnen steigen, der klimapolitische Gewinn läge bei einem Minus von 24 Millionen Tonnen CO2.

Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) will keinen Klimaaktionsplan akzeptieren, der das deutsche Klimaziel bis 2020 verfehlt.
Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) will keinen Klimaaktionsplan akzeptieren, der das deutsche Klimaziel bis 2020 verfehlt.
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Weitaus günstiger wäre es, wenn im gesamten Nord-West-Strommarkt, also in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Dänemark, ein CO2-Preis eingeführt würde. Läge der Preis bei 29 Euro pro Tonne würde das in Deutschland 16 Millionen Tonnen CO2 weniger bedeuten, im benachbarten Ausland stiegen die Emissionen um 13 Millionen Tonnen, das wäre ein klimapolitischer Nutzen von minus drei Millionen Tonnen CO2. Bei 40 Euro in diesem Regionalmarkt sänken die Emissionen in Deutschland um 24 Millionen Tonnen, stiegen im Ausland um lediglich noch acht Millionen Tonnen und brächten einen Klimagewinn von minus 16 Millionen Tonnen CO2.

Greenpeace und der BUND halten von einem CO2-Mindestpreis nicht allzu viel. Beide Umweltverbände haben Kohleausstiegsgesetze vorgelegt, um den Strukturwandel zu beschleunigen und die deutschen Klimaschutzziele nicht zu verfehlen.

Derzeit sind Kraftwerke mit einer Leistung von 5000 Megawatt zur Stilllegung angemeldet. Das sind allerdings nicht nur alte Kohlekraftwerke. Das Wirtschaftsministerium hat analysiert, dass weitere 10 000 Megawatt Kohlekraftwerksleistung vom Netz gehen müssten, um das deutsche Klimaschutzziel einzuhalten. Allerdings wird im Kabinett offenbar weiter darüber gestritten, wie diese Kraftwerksleistung stillgelegt werden könnte.

Die Opposition ist alarmiert

Die Opposition warnt die Bundesregierung eindringlich, das zugesagte Klimaziel auch tatsächlich einzuhalten. Der grüne Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer, der gleichzeitig Vorsitzender der europäischen Grünen ist, sagte dem Tagesspiegel: "Wenn die Bundesregierung tatsächlich einen Vorschlag macht, der hinter den 40 Prozent zurück bleibt, wäre das ein schwerer klimapolitischer Sündenfall." Deutschland verliere dann nicht nur umwelt- und klimapolitisch seine Glaubwürdigkeit, "das wäre auch schlecht für die deutsche Wirtschaft", sagt Bütikofer. Mit Blick auf die erste große Koalition, die 2007 das deutsche Klimaziel entworfen hatte, sagte Bütikofer: "Die zweite große Koalition unterscheidet sich von der ersten dadurch, dass sie die Versprechen der ersten als Geschwätz entlarvt."

Die klimapolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Annalena Baerbock, hielte es für ein "fatales Signal für den Klimagipfel in Lima und für eine Bankrotterklärung der Bundesregierung", wenn es ihr nicht gelinge, am 3. Dezember ein Klimaaktionsprogramm vorzulegen, das das deutsche Ziel auch einhält. Abgesehen von der außenpolitischen Wirkung einer solchen "Kapitulation" denkt sie, dass die Bundesregierung auch "die innenpolitische Wirkung eines solchen Versagens unterschätzt".

Der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck (Grüne) sagte dem Tagesspiegel: „Wer da das 40 Prozent Ziel in Frage stellen sollte, muss doch bescheuert sein. Ein Zurückweichen darf nicht sein." Er plädierte dafür, den Klimaschutz nicht mehr "nur als Bedrohung für Besitzstände zu sehen". Die Energiewende und technische Innovationen seien Wirtschaftsmotoren. "Deutschland muss sich trauen, das voranzutreiben und wirklich Vorreiter bei Energiewende und Klimaschutz sein." Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) sieht das im Grundsatz ähnlich. Am Montag sagte sie: "Wer da zu spät kommt, den bestraft am Ende der internationale Wettbewerb."

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