Chef von Agora Energiewende: Erst ab 2020 wird es mit der Stromversorgung knapp
Die großen Stromerzeuger verdienen heute kaum noch Geld mit ihren fossilen Kraftwerken. Patrick Graichen, Chef der einflussreichen Denkfabrik Agora, versteht ihren Kummer. Ihre Warnungen, wonach tatsächlich bald die Lichter ausgehen, hält er für deutlich übertrieben.
Wo steht die Energiewende gerade?
Wir haben den ersten Schritt erfolgreich bewältigt, ein Viertel erneuerbare Energien in unser Stromsystem einzuführen. Jetzt kommt der zweite Schritt auf 50 Prozent. In diesem Moment werden die erneuerbaren Energien die Leittechnologie im Energiesystem. Das verändert alles.
Ist unser Energiesystem vorbereitet?
Ja und nein. Ja insofern, als wir feststellen, dass wir schon jetzt einen hochflexiblen Gas- und Steinkohlekraftwerkspark haben, der im Prinzip eine gute Ergänzung ist zu den erneuerbaren Energien. Nein, weil unsere Regularien nicht so sind, dass sie die erneuerbaren Energien in den Mittelpunkt stellen. Das fängt bei Systemdienstleistungen an, die nicht auf erneuerbare Energien ausgerichtet sind. Das heißt, Strommengen, die für die Stabilität des Stromnetzes benötigt werden, werden bisher kaum von Wind-, Solarparks oder Biomasse-Kraftwerken geliefert. Und es geht bis zu der Frage, welche Leitungen braucht ein solches System?
In der öffentlichen Debatte überlagern sich viele Themen: Es gibt Speicher-Lobbyisten. Andere stellen sich einen konventionellen Kraftwerkspark vor, so groß wie die erneuerbare Erzeugungsleistung. In Bayern gibt es Leute, die halten Höchstspannungsleitungen für weniger nötig. Wie definieren Sie im Meinungs-Dschungel Prioritäten?
Jetzt nehmen wir den Schritt auf 50 bis 60 Prozent erneuerbare Energien in Angriff. Da wissen wir ziemlich genau, was der kosteneffiziente Pfad dahin ist: Der Ausbau erneuerbarer Energien sollte zunächst auf den Ausbau von Wind an Land und Fotovoltaik konzentriert werden. Bei den konventionellen Kraftwerken sollten die Gas- und Steinkohlekraftwerke, die wir haben, weiter genutzt werden, allerdings flexibler und mit geringerer Auslastung. Und es bedeutet, einige Stromtrassen nach Süddeutschland auch zu bauen. Denn wir werden viel Windstrom im Norden haben und weiterhin einen hohen Verbrauch im Süden. Alternativen, wie ein großer Speicherzubau, würden das System deutlich teuer machen.
Wie erklären Sie sich, dass es so viele engagierte Verfechter großer Speicherlösungen gibt? Wie erklären Sie sich, dass es so viele engagierte Verfechter großer Speicherlösungen gibt?
Speicher werden in einer von erneuerbaren Energien bestimmten Energiewelt ihre Berechtigung haben. Die Frage ist, wann der richtige Zeitpunkt dafür ist. Da ist es aus einer Gesamtkostensicht jetzt noch zu früh. Wer aber am Start ist, hat natürlich ein berechtigtes Interesse, seine Produkte zu verkaufen.
Werden nach Ihrer Einschätzung Speicher, Nachfragesteuerung oder andere Flexibilitätsangebote – wenn beispielsweise ein Kunde dann viel Strom kauft, wenn viel Strom in den Leitungen ist, und darauf verzichtet, wenn es einen Strommangel gibt – in einem reformierten Strommarkt in irgendeiner Weise bezahlt werden?
Wir werden jetzt etwa ein Jahr lang über den Strommarkt der Zukunft diskutieren. Dabei geht es auch um Kapazitätsmärkte oder andere Instrumente, die das Vorhalten von flexiblen Leistungen belohnen. Ich glaube, dass es da viele Lösungen geben wird – sowohl Backup-Kraftwerke als auch Nachfragemanagement. Zudem werden auch Speicher, die womöglich auch noch andere Aufgaben erfüllen, eine Rolle in diesem Markt spielen.
Damit meinen Sie Wärmespeicher, die mit Überschussstrom aufgeheizt werden?
Ich meine damit Wärmespeicher aber auch Stromspeicher, die gleichzeitig eine andere Funktion haben, etwa Batterien für Elektroautos. Solche Speicher können aus dem Stromsystem einen Zusatzerlös holen, aber sie müssen sich nicht vollständig daraus finanzieren. Die Herausforderung ist, einen Markt zu schaffen, der diesen verschiedenen Technologien gleiche Wettbewerbschancen bietet, damit die Techniken miteinander konkurrieren können und sich am Ende die kostengünstigsten durchsetzen können oder jene, welche die Aufgabe am besten erfüllen können.
Wozu würden Sie nach Ihrem heutigen Kenntnisstand in der Diskussion um den künftigen Strommarkt raten?
Eines können und sollten wir auf jeden Fall tun: den jetzigen Strommarkt flexibler und schneller machen. Das läuft unter dem Stichwort Energy-Only-Markt 2.0. Bisher ist der Energy-Only-Markt ein Marktplatz für Strom, bei dem die Energie zu Preisen gehandelt wird, die lediglich die Betriebskosten der Kraftwerke abbilden. Die Investitionskosten der Kraftwerke – sie sind je nach Kraftwerkstyp der gewichtigste Brocken – werden systematisch ausgeblendet. Würde der Energy-Only-Markt jedoch derart verändert, dass es regelmäßige Hochpreisphasen gäbe, könnten diese das Signal sein, in Nachfragemanagement, Speicher oder neue Kraftwerke zu investieren. Solche Neuinvestitionen – insbesondere in flexible Kraftwerke – sind langfristig wichtig, um die Versorgungssicherheit in allen Stunden des Jahres zu gewährleisten. Ob das allerdings tatsächlich mit dem Energy-Only- Markt 2.0 gelingt, da habe ich meine Zweifel. Dennoch ist seine Einführung in jedem Fall ein wichtiger und notwendiger Schritt, den wir auf jeden Fall tun sollten.
Sie sehen die Debatte nicht als ein Entweder Energy-Only-Markt 2.0 oder Kapazitätsmarkt sondern als ein sowohl als auch?
Ich sehe es als Zweischritt: Wir sollten den Energy-Only-Markt schnell reformieren und parallel überlegen, ob und wenn ja, wann der zweite Schritt fällig wird.
Der Branchenverband BDEW oder die Gewerkschaften klingen ganz anders. Sie haben vor kurzem gemeinsam für einen Kapazitätsmarkt demonstriert.
Was wir wissen, ist, dass es im Zusammenhang mit dem Atomausstieg in den Jahren 2021/22 insbesondere in Süddeutschland, aber möglicherweise auch in ganz Deutschland knapp werden kann. Darum sind die verschiedenen Kapazitätsmarkt-Konzepte derzeit in der Diskussion. Die Sorgen der Beschäftigten in den Kraftwerken sind kurzfristiger. Viele Kraftwerke verdienen derzeit am Strommarkt zu wenig Geld, deswegen geraten Kraftwerksbetreiber unter Druck. Das ist verständlich, aber aus Sicht der Versorgungssicherheit wäre eine Antwort erst zum Jahr 2020 fällig.
RWE ist teilweise im Besitz von ohnehin schon notleidenden Kommunen. Auch bei vielen Stadtwerken ist die Lage kritisch. Sie haben zum Teil Kraftwerke mit starker politischer Unterstützung gebaut. Man wird das kaum sauber sortieren können: Das eine ist das Stromsystem und das andere die Politik, oder?
Vermutlich werden wir 2016 ein neues Strommarktdesign bekommen. Dieser Marktrahmen wird Antworten für eine ganze Reihe von Fragen finden müssen: Wie lässt sich Versorgungssicherheit garantieren? Welche Formen von Flexibilität werden gebraucht? Wie geht es mit jüngst gebauten Kraftwerken, die kein Geld verdienen, weiter? Wie geht es mit der Kraft-Wärme-Kopplung weiter, bei der Strom und Wärme gleichzeitig erzeugt werden? Wie steht es um den Klimaschutz? Insofern sind die Diskussionen miteinander verzahnt. Am Ende wird es ein Gesamtpaket geben müssen.
Und all das lässt sich mit einem Rahmen für einen neuen Strommarkt beantworten?
Ich gehe davon aus, dass die Themen so miteinander verwoben sind, dass man sie gar nicht trennen kann.
Ist es vernünftig, Kraftwerke stillzulegen, die wir ab 2022 brauchen?
Wenn der Energy-Only-Markt reformiert würde, würde das zu einem Abbau der Überkapazitäten im Strommarkt führen?
Er würde den Strommarkt vor allem flexibler machen. Heute wird ein Industriebetrieb bestraft, wenn er seine Stromnachfrage erhöht, wenn viel Strom im Netz ist, weil er dann höhere Netzentgelte bezahlen muss. Wir wollen aber, dass er in einem solchen Fall seine Nachfrage erhöht. Umgekehrt wird der Betrieb belohnt, wenn er das ganze Jahr eine gleichmäßig hohe Nachfrage hat – also auch, wenn gerade wenig Strom im Netz ist. Wir müssen das System daher so verändern, dass Flexibilität bei Anbietern wie Nachfragern nicht bestraft wird. Die zweite Frage ist, was wir mit den Kraftwerken machen, die kein Geld verdienen. Das ist es eine berechtigte Frage, ob es vernünftig ist, dabei zuzusehen, wie moderne Gaskraftwerke stillgelegt werden, die wir nach 2022 wahrscheinlich brauchen werden.
Welche Perspektiven sehen Sie für die Kraft-Wärme-Kopplung (KWK)? Vor einigen Jahren galt sie als Lösung für viele Probleme. Die Regierung hat sich vorgenommen, bis 2020 einen KWK-Anteil von 25 Prozent am Stromverbrauch zu erreichen.
Die KWK-Kraftwerke haben das gleiche Problem wie andere Gaskraftwerke. Die Strompreise an der Börse sind im Keller, die Erlöse reichen nicht mehr für einen kostendeckenden Betrieb. Das wird man bei der Novelle des KWK-Gesetzes anpacken müssen. Die Rolle von KWK im Gesamtenergiesystem wird man allerdings noch einmal diskutieren müssen. Denn in einer Welt von mindestens 80 Prozent erneuerbaren Energien, das heißt spätestens 2050, werden wir nicht gleichzeitig 25 Prozent KWK haben können. Es ist klar, dass das eine Übergangstechnologie ist. Diesen Übergangspfad sollten wir sehr genau definieren.
Das Energiekonzept 2010/11 hat ziemlich viele Zielsetzungen formuliert, die nicht immer zueinander passen. Was heißt das?
Im Prinzip gibt es drei Leitziele im Energiekonzept: den Atomausstieg, die Klimaschutzziele und die Ziele beim Ausbau erneuerbarer Energien. Alle anderen Ziele stehen darunter. Sie sind Hilfsziele, um diese Leitziele zu erreichen. Bei diesen Hilfszielen kann man also durchaus Flexibilität zeigen.
Das werden diejenigen, die diese Hilfsziele vertreten, ungern hören.
Das ist so. Wenn Unternehmen darauf gesetzt haben, dass einzelne Technologien unbedingt notwendig sind, ist das ein Problem für sie. Aber wir haben hier ein Generationenprojekt. Da kann man am Anfang nicht wissen, welche Technologien in 20 der 30 Jahren zwingend notwendig sind.
Nach dem EU-Klimagipfel ist klar, dass der Ehrgeiz der EU bis 2030 überschaubar ist. Am 3. Dezember will die Bundesregierung erklären, wie sie die mehrfach beschlossene Minderung des Treibhausgasausstoßes bis 2020 um 40 Prozent unter das Niveau von 1990 noch erreichen will. Wo sehen Sie da Lösungen?
Es gibt drei große Bereiche, in denen gehandelt werden muss, um die Klimaschutzziele bis 2020 noch zu erreichen. Das ist zunächst die Gebäudesanierung: Hier diskutieren wir schon seit langem über die steuerliche Förderung. Die muss jetzt kommen. Der zweite Bereich ist die Stromeffizienz: Weniger Stromverbrauch führt eins zu eins zu weniger Kohlendioxid-Emissionen. Das ist der größte Hebel. Und drittens die Frage des Verhältnisses zwischen Kohle und Gas im Strommarkt. Wir haben erlebt, wie in den vergangenen Jahren die billige Steinkohle das Gas aus dem Strommarkt verdrängt hat. Diesen Trend muss man umkehren. Konkret heißt das: Die Kohleverstromung muss bis 2020 deutlich zurückgehen, sonst kann man das Klimaschutzziel nicht erreichen.
Wie soll das gehen? Der europäische Emissionshandel, in dem Unternehmen Kohlendioxid-Berechtigungen nachweisen müssen, wenn sie das Klimagas in die Atmosphäre blasen wollen, wird vor 2020 nicht reformiert. Dort kostet die Tonne CO2 seit Jahren um die fünf Euro.
Es gibt mehrere den Emissionshandel ergänzende Möglichkeiten, die alle Vor- und Nachteile haben. Aber wenn das Klimaziel noch erreicht werden soll, muss man auch solche zweitbesten Lösungen nutzen, wie beispielsweise einen Mindestpreis für CO2 wie in Großbritannien. Auch technische Vorgaben oder Grenzwerte für bestimmte Emissionen sind denkbar. Oder man packt alte Kohlekraftwerke in eine Reserve für Engpass-Situationen. Bisher sind die Vor- und Nachteile dieser Instrumente wissenschaftlich noch nicht gut genug untersucht, um wirklich zu wissen, was die beste Lösung ist – auch mit Blick auf die Strompreise und die Wettbewerbssituation der deutschen Industrie.
Wie stehen Sie zur Braunkohle und den geplanten neuen Braunkohle-Tagebauen?
Die Braunkohle-Frage ist die langfristige Frage. Da geht es um die Klimaschutzziele für 2030 oder 2040. Darüber muss man aber bereits heute mit den Unternehmen sprechen, weil diese Fragen in den nächsten Jahren entschieden werden – und wir sonst in zehn Jahren vor der gleichen Situation mit Blick auf das 2030-Klimaschutzziel stehen, wie wir es heute in Bezug auf das 2020-Klimaschutzziel tun.
Wenn es dann ein neues Strommarktdesign geben wird, was ist dann das nächste Thema der Energiewende?
Die Europäisierung der Energiewende. Wir sind keine Insel. Deutschland hat in Europa die meisten Grenzkuppelstellen zu seinen Nachbarn. Allein schon deshalb wird das alles am Ende nur im europäischen Kontext funktionieren.
Zur Person: Patrick Graichen leitet den Energiewende-Thinktank Agora seit Januar 2014. Zuvor war er stellvertretender Direktor der Denkfabrik, die überwiegend von der Mercator-Stiftung und der European Climate Foundation finanziert wird, und die Energiewende vorantreiben will. Graichen löste Rainer Baake ab, der als Staatssekretär ins Bundeswirtschaftsministerium wechselte. Graichen ist Volkswirt und Politikwissenschaftler. Er hat von 2001 bis 2012 im Bundesumweltministerium gearbeitet, zuletzt als Referatsleiter Energie- und Klimapolitik. Dort ließ er sich beurlauben, um in der Berliner Rosenstraße über die Energiewende nachdenken zu können. Seine Doktorarbeit schrieb er an der Universität Heidelberg über die Stromrebellen in Schönau.