Klage wegen Genozides: Ukraine fordert gerichtlichen Stopp russischer Gewalt
Die Ukraine hat in Den Haag ein Dringlichkeitsverfahren gegen das Nachbarland angestrengt. Russische Vertreter blieben dem Termin fern.
In einem dramatischen Appell hat die Ukraine das höchste Gericht der Vereinten Nationen zum Eingreifen gegen Russland aufgerufen. Angesichts der andauernden russischen Angriffe und des menschlichen Leids solle der Internationale Gerichtshof so schnell wie möglich ein Ende der Gewalt anordnen. „Russland muss gestoppt werden“, sagte der Vertreter der Ukraine, Anton Korynevych, am Montag in Den Haag.
Die Ukraine verklagte das Nachbarland wegen Verletzung der Völkermord-Konvention von 1948. Doch Russland boykottierte die Sitzung.
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Es sollte die erste Konfrontation der Ukraine und Russlands vor einem internationalen Gericht sein seit dem Einmarsch am 24. Februar. Doch die für die russische Delegation reservierten Plätze im Friedenspalast blieben leer. Der russische Botschafter in den Niederlanden hatte mitgeteilt, dass sein Land nicht teilnehmen werde, wie die Vorsitzende Richterin Joan Donoghue zu Beginn der Sitzung sagte. Gründe wurden nicht genannt.
Experten bezweifeln, dass sich Russland dem Urteil fügt
Der Vertreter der Ukraine sprach von einer Missachtung des internationalen Rechts. „Sie sind nicht hier im Gerichtssaal, sie sind auf den Schlachtfeldern und führen einen aggressiven Krieg gegen mein Land. So lösen sie Konflikte.“
Die internationalen Richter wollen „so schnell wie möglich“ urteilen, wie Präsidentin Donoghue sagte. Urteile des UN-Gerichts sind zwar bindend. Doch Experten bezweifeln, dass sich Russland an eine Anordnung auch halten würde. Das Gericht besitzt keine Machtmittel, um einen unterlegenen Staat zu zwingen, ein Urteil umzusetzen. Es könnte den UN-Sicherheitsrat anrufen. Dort kann Russland allerdings jede Entscheidung mit einem Veto blockieren.
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Grundlage der Klage ist die Völkermordkonvention, die beide Staaten unterzeichnet haben. Die Ukraine wirft Russland vor, die Konvention als Rechtfertigung des Krieges zu missbrauchen. Die Richter sollen erklären, so die Ukraine, dass es „keinerlei rechtliche Grundlage“ für die Invasion und den Krieg gibt.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte die Invasion mit der unbewiesenen Behauptung gerechtfertigt, dass Russen in Luhansk und Donezk in der Ostukraine vor einem Völkermord geschützt werden müssten. „Das ist eine schreckliche Lüge Putins“, sagte Korynevych.
Die Rechtsvertreter der Ukraine beschuldigten Russland auch der Kriegsverbrechen. „Russland verübt Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit,“ sagte Korynevych. Die UN-Richter müssten ein Ende der militärischen Gewalt anordnen, um die humanitäre Krise zu beenden und irreparable Schäden zu verhindern.
Kommt Putin jemals nach Den Haag?
Nach dieser ersten Sitzung entscheidet das Gericht zunächst über den Dringlichkeitsantrag der Ukraine. Danach folgt das Hauptverfahren. Das kann sich über Jahre hinziehen. Die Ukraine will dann auch Reparationszahlungen von Russland fordern.
Parallel befasst sich der Internationale Strafgerichtshof, ebenfalls in Den Haag ansässig, mit dem Krieg in der Ukraine. Anders als das UN-Gericht verfolgt dieses Weltstrafgericht jedoch individuelle Verdächtige wegen möglicher Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das heißt, dass theoretisch auch der russische Präsident Wladimir Putin ins Visier der Ermittler kommen könnte.
Allerdings ist es schwierig, genügend harte Beweise für die Verantwortung zu finden. Selbst wenn ein internationaler Haftbefehl ausgestellt würde, wäre es mehr als zweifelhaft, ob Russland dem nachkommen und Verdächtige ausliefern würde. Ein Haftbefehl würde aber die Bewegungsfreiheit erheblich einschränken. Denn Verdächtige liefen Gefahr, festgenommen und an Den Haag überstellt zu werden.
Russland erkennt das Weltstrafgericht zwar nicht an. Aber die Ukraine hat in einer Erklärung die Zuständigkeit des Gerichts auf ihrem Grundgebiet seit November 2013 anerkannt. Die Erklärung bezieht sich allerdings nicht auf den Straftatbestand der militärischen Aggression.
Ehemalige FDP-Justizministerin für Klage gegen Putin
Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, strengt wegen des Kriegs in der Ukraine Klagen gegen Putin an. „Es geht um die Durchsetzung des Völkerstrafrechts“, sagte die FDP-Politikerin am Montag im „Morgenmagazin“ des ZDF. „Es ist wichtig, dass jetzt schon angefangen wird zu ermitteln, Beweise zu sichern, wenn Flüchtlinge kommen, um deutlich zu machen: Die Verantwortlichen für diesen Aggressionskrieg, die werden nicht ungestraft davonkommen. Das ist die Hoffnung und das ist die Botschaft.“
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Eine Anklage soll der Juristin zufolge nach dem „Weltrechtsprinzip“ erfolgen, wie es in Deutschland auch schon in Verfahren gegen Verantwortliche des Kriegs in Syrien zur Anwendung kam. Es gehe darum, Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu verfolgen - „und zwar überall auf der Welt, nicht nur durch den internationalen Strafgerichtshof, sondern ergänzend, also komplementär auch national“.
Ob es zu einer Verurteilung Putins kommen werde, sei „absolut ungewiss“, räumte Leutheusser-Schnarrenberger ein. Alle in der militärischen und politischen Verantwortungsstruktur sollte aber wissen, dass es Ermittlungen gebe und ihnen gegebenenfalls eine Festnahme drohe. „Ich glaube, allein diese Botschaft ist schon eine ganz, ganz wichtige, auch für die Menschen, dass sie sehen, man lässt die wirklich Verantwortlichen nicht davon kommen. Man versucht jedenfalls alles.“ (dpa).