Taiwan-Drohung: Übernimmt China russische Methoden?
Bisher hat Peking sein politisches, ökonomisches und militärisches Druckpotenzial gern genutzt, aber Krieg vermieden - das könnte sich ändern.
Die Drohung des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, die Inselrepublik Taiwan eventuell auch mit militärischer Gewalt an China anzuschließen, hat konsternierte Reaktionen in Europa und den USA hervorgerufen. Ein Teil der Experten bemüht sich, der Aussage ihre Schärfe zu nehmen, indem sie auf die konzilianten Töne in Xis Rede am Mittwoch in Peking verweisen. Der Präsident habe auch gesagt, dass er eine friedliche Vereinigung anstrebe und dass „China keine Chinesen angreift“.
Weitere Fachleute moderieren die Drohung herunter, indem sie sie als Antwort auf die Neujahrsansprache der Präsidentin von Taiwan, Tsai Ing-wen, interpretieren. Sie hatte betont, dass Taiwan nicht bereit sei, „unsere Souveränität aufzugeben oder Zugeständnisse hinsichtlich der Autonomie zu machen“ – eine Provokation für Pekings Anspruch, dass es nur ein China gebe und die Insel eine abtrünnige Provinz sei. Tsai Ing-wen lehnte auch die Formel ab, unter der Hongkong 1997 nach rund 150 Jahren als britische Kronkolonie unter Chinas Herrschaft zurückgekehrt war: „ein Land, zwei Systeme“. Taiwan werde das nicht akzeptieren. Es sei stolz auf seine demokratische Lebensweise.
Eine so explizite Ablehnung des Pekinger Macht- und Wiedervereinigungsanspruchs habe Xi nicht unwidersprochen stehen lassen können, sagte Bonnie Glaser, China-Expertin am Center for Strategic and International Studies in Washington, der „New York Times“.
Andere Experten sehen in Xis Drohung hingegen eine qualitative Veränderung. „Wir geben kein Versprechen ab, auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten, und behalten uns die Möglichkeit vor, alle erforderlichen Mittel zu ergreifen“, sagte Xi. „Wir lassen keinen Raum für separatistische Aktivitäten.“ Das sei eine „sehr rigide Festlegung ohne Raum für Flexibilität“, analysiert Steve Tsang, Direktor des China-Instituts der School of Oriental and African Studies in London, in der "Washington Post". Xi sage den Bürgern Taiwans: „Es gibt nur einen Weg zur friedlichen Einheit, und das ist mein Weg.“ In der Tat lässt sich Xis Friedensangebot auch als Drohung lesen: „Nach einer friedlichen Wiedervereinigung wird Taiwan dauerhaften Frieden haben.“
Die Interpretation der Drohung Kims ist entscheidend
Die Debatte, ob Xis Drohung wörtlich zu nehmen oder als eine rhetorische Zuspitzung zu verstehen sei, hat grundsätzliche Bedeutung. Denn sie stellt die dominierende Sicht auf Chinas Verhalten in der Welt infrage. Demnach sei der Unterschied zwischen Russland und China, dass Moskau keine Skrupel habe, Kriege anzuzetteln, um seine Interessen durchzusetzen, Peking hingegen militärische Auseinandersetzung vermeide.
Russland hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder Militär eingesetzt, um seine Imperialherrschaft zu verteidigen oder auszudehnen, und hält Gebiete anderer Staaten besetzt: das offiziell zu Moldawien zählende Transnistrien, die georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien, die Krim, die Ostukraine; seine Soldaten führten Krieg in Tschetschenien und kämpfen in Syrien.
China, betonen die Anhänger dieser Lesart, trete zwar ebenfalls machtbewusst auf, unterdrücke im Inneren die Tibeter und die muslimischen Uiguren. Es übe Druck auf andere Länder aus und zeige dabei auch seine militärischen Muskeln. Aber anders als Moskau habe es andere Staaten nicht angegriffen. Dies entspreche einerseits der historischen Tradition und andererseits den ökonomischen und machtpolitischen Interessen. Kriege dämpften Handel und Wachstum. Die Partei brauche Wachstumsraten von mindestens sechs bis sieben Prozent, um den sozialen Frieden zu wahren. Anders gesagt: Ein Krieg gefährde das politische Überleben des Systems.
Xis Rede wirft die Frage auf, ob diese Regel noch gilt. Oder wird auch in China die Befriedigung nationaler Ambitionen wichtiger für den politischen Rückhalt als die sozialen Verhältnisse?
Die wachsende Konfrontation zwischen China und Taiwan in den vergangenen zwei Jahren stellte die alten Überzeugungen von Pekings nichtkriegerischem Vorgehen noch nicht prinzipiell infrage. China brach die direkten Gespräche mit Taiwan ab und übte Druck auf die wenigen Staaten, die diplomatische Beziehungen mit Taiwan haben, aus, diese abzubrechen; El Salvador beugte sich, jetzt sind es nur noch 17. Peking schickte mehr Kriegsschiffe in die Straße von Taiwan, die die Insel vom Festland trennt, und sandte Bomber in Taiwans Luftraum. Das alles ließ sich noch als Reaktion auf die Wahl Tsai Ing-wens zur Präsidentin interpretieren. Sie gehört der Demokratischen Fortschrittspartei an, die die Eigenständigkeit betont. In dieser Lesart wollte China Taiwan davon abhalten, seine Souveränität zu erklären, und Druck ausüben, zur Annäherungspolitik zurückzukehren.
Die Annäherung der letzten Jahre machte Taiwans Bürgern Angst
Die Verständigung hatte Taiwan in den Jahren zuvor unter Präsident Ma gesucht. Peking und Taipeh schlossen 21 Abkommen, unter anderem zu Tourismus und Investitionsschutz. Die Zahl der Direktflüge zwischen Taiwan und China stieg auf 800. 2013 kamen drei Millionen Touristen aus China nach Taiwan und umgekehrt fünf Millionen Taiwanesen aufs Festland. Immer mehr taiwanesische Firmen ließen in China produzieren. 40 Prozent der Exporte Taiwans gingen aufs Festland, 28 Prozent der Importe kamen von dort. Doch mit der Verflechtung wuchs unter Taiwans Bürgern die Furcht vor einer zu großen Abhängigkeit von China – zumal sie in Hongkong beobachten konnten, wie Peking die Demokratiebewegung dort zerschlug. Das Versprechen „ein Land, zwei Systeme“ erwies sich als eng begrenzt. So erhielt die auf Eigenstaatlichkeit pochende Fortschrittspartei Zulauf. Tsai Ing-wen gewann die Präsidentenwahl 2016 souverän.
Chinesischer Druck auf Taiwan, auch militärischer, ist nicht neu. Die unverhohlene Androhung eines gewaltsamen Anschlusses dagegen schon.
Der Ausführung steht freilich das Schutzversprechen der USA für Taiwan entgegen. 1996 hatte China Raketen vor Taiwans Küste geschossen, um die Bürger vor einer Präsidentschaftswahl einzuschüchtern. US-Präsident Bill Clinton entsandte zwei Flugzeugträgergruppen als Rückversicherung für Taiwan. Donald Trump möchte zwar das militärische Engagement der USA in anderen Erdteilen reduzieren. An Rückhalt für Taiwan hat er es aber nicht fehlen lassen. Im vergangenen Jahr fuhren gleich drei Mal US- Kriegsschiffe durch die Straße von Taiwan. An Silvester 2018 unterzeichnete Trump den „Asia Reassurance Initiative Act“, ein Gesetz zur Rückversicherung Asiens gegen Chinas wachsende Macht. Es enthält auch eine Selbstverpflichtung der USA, alle Versuche zu kontern, die eine Veränderung des Status quo von Taiwan zum Ziel haben, und friedliche Lösungen zu unterstützen, die für beide Seiten akzeptabel sind.