Taiwan zwischen Demokratie und Moderne: Terror und Vergebung
Im Schatten Chinas: Taiwan versucht, sich durch seine Kulturdiplomatie als demokratischer und moderner Staat zu etablieren. Ein Besuch in Taipeh.
Es sind überraschende Orte, die Kulturministerin Lung Yingtai empfiehlt, damit Besucher „besser verstehen, wer wir sind“: zwei frisch renovierte Dienstvillen der japanischen Besatzer aus den 30er Jahren in Taipeh, die nun als Literaturhaus dienen; das 2011 eröffnete Menschenrechtsmuseum in einem ehemaligen Gefängnis, das an den „weißen Terror“ der chinesischen Nationalisten gegen Dissidenten erinnert; und, zum Kontrast, das Chiang Kai Shek Memorial, das den Gründervater der „ROC“ bis heute verherrlicht. „ROC“ steht für die Republic of China auf der Insel Taiwan vor der Küste Chinas. 1949, nach der Niederlage gegen die Kommunisten im Bürgerkrieg auf dem Festland war der General Chiang Kai Shek mit rund zwei Millionen Gefolgschaft dorthin geflohen. Er errichtete eine autoritäre Herrschaft. Inzwischen ist Taiwan eine lebendige Demokratie.
„Wer wir sind“ und „wie wir uns darstellen“ – diese Fragen treiben Frau Lung um. Das junge Ministerium, das sie seit 2012 aufgebaut hat, ist ihre Antwort. Die Kulturpolitik müsse zum Kern der Außenpolitik werden. Nur noch ein gutes Dutzend Staaten unterhalten diplomatische Beziehungen zu Taiwan. Peking hat seinen Alleinvertretungsanspruch nahezu weltweit durchgesetzt. Wofür braucht die Welt Taiwan? Und wie macht es seine Existenzberechtigung anderen Nationen klar?
„Taiwan ist unverzichtbar, weil es zeigt: China muss nicht so sein, wie es ist“, sagt die 62-Jährige. „Gäbe es nur ein China, könnte Peking sich leichter mit der These durchsetzen, dass Chinesen anders sind als Westler und eine andere Werteordnung haben. Taiwan beweist: Ein modernes China kann demokratisch sein.“
Kleine Revolution im Denken
Es ist eine kleine Revolution im Denken, die Lung ihren Landsleuten abverlangt. Aufgewachsen sind sie im Glauben, dass die Taiwanesen China repräsentieren, dass die kommunistische Machtübernahme auf dem Festland vorübergeht und die Chinesen irgendwann unter der Führung der Nationalisten wieder als ein Volk zusammenfinden. „In meiner Kindheit waren wir China. Wir hatten den UN-Sitz, nicht Peking. Dann kamen die Rückschläge. Selbst die USA näherten sich ans Festland an und stuften die Beziehungen zu uns zurück. Wir wurden zu einem Waisenkind in der Weltgemeinschaft.“
Parallel gelang Taiwan die Demokratisierung: Meinungsfreiheit, Zivilgesellschaft, freie Wahlen, die zu Machtwechseln führen. Mit der Zeit haben sich zwei unterschiedliche Kulturen in Taiwan und auf dem Festland herausgebildet, sagt Lung. Taiwan sei zur Hoffnung für viele Festlandchinesen geworden.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte eröffnet neue diplomatische Optionen. Für andere Staaten ist Kulturpolitik ein Zusatz zur klassischen Diplomatie. Für Taiwan müsse sie zum Kern der Außenpolitik werden, fordert Lung. Diese Strategie wird nun überraschend früh zu ihrem Vermächtnis. Denn nach der Niederlage bei der Kommunalwahl hat Regierungschef Jiang Yi Huah den Rücktritt des Kabinetts erklärt.
Präsident Ma hatte Lung Yingtai vor zwei Jahren im Vertrauen auf ihre Energie, ihr Charisma und ihre internationale Reputation ernannt. Sie ist Bestsellerautorin, ihr jüngstes Werk „Großer Fluss, großes Meer 1949“ kursiert in mehreren Millionen Raubkopien in China. Es handelt vom Bürgerkrieg, von weißem wie von rotem Terror – ein Thema, das auf dem Festland Tabu ist.
Zuvor hatte Lung die Kulturpolitik der Hauptstadt Taipeh gestaltet und Projekte wie die Erhaltung der japanischen Villen und das Menschenrechtsmuseum angestoßen. Damals war sie gerade aus Deutschland zurückgekehrt, wo sie elf Jahre mit einem Ostdeutschen verheiratet war und an der Universität Heidelberg chinesische Literatur lehrte. Der Fall der Berliner Mauer hat sie geprägt. „Zwei Themen faszinieren mich. Was bringt Menschen, wenn der politische Wind sich dreht, zu der Entscheidung, ob sie sich einer Bewegung anschließen oder sie bekämpfen?“ Sie denkt an Thomas Mann, der Nazideutschland verließ, und an „meine Landsleute, die sich 1949 entscheiden mussten, ob sie für das neue China arbeiten oder gehen“. Ihre Eltern verließen China, sie wurde als Flüchtlingskind 1952 in Taiwan geboren.
Gauck-Behörde als Vorbild für Taiwan
Ihr anderes Thema ist „Gerechtigkeit nach Diktaturen“. In der Gauck-Behörde sieht sie ein Vorbild für Taiwan. Das Menschenrechtsmuseum ist in der früheren Strafanstalt für politische Gefangene untergebracht. In den Schaukästen hängen Zeichnungen ehemaliger Häftlinge, wie sie blutig geschlagen wurden, Namenslisten zum Tode Verurteilter und deren letzte Briefe an Angehörige. Die hat man den Familien damals nicht gegeben. „Das holen der Präsident und ich mit persönlichen Besuchen jetzt nach“, sagt Lung.
Durch die Ausstellung führt Herr Chen, ein ausgemergelter Ex-Häftling mit lebenslustigem Lächeln. „Bis ich 60 war, konnte ich nicht vergeben. Die Regierung hat mir meine Jugend gestohlen. Doch irgendwann wollte ich die Faust nicht mehr ballen. Das Leiden wurde unerträglich. Ohne Vergebung gibt es keine Zukunft.“ Heute ist er 73 und führt Besuchergruppen durch die Gedenkstätten. Darunter sind auch Festlandchinesen. „Sie bewundern, was wir hier tun.“
Im Gegensatz dazu steht das Chiang Kai Shek Memorial. Es zeigt den Anführer als Staatsmann, verschweigt die Verbrechen des Regimes – und ähnelt damit der Darstellung des großen Vorsitzenden Mao auf dem Festland. Die Millionen Opfer der Kulturrevolution werden auch dort verschwiegen. Ein Umdenken auf dem Festland kann Lung noch nicht erkennen. „China wird das erst angehen, wenn es sich seines moralischen Status sicher ist. Bisher vermeiden sie die Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution, flüchten vor der Erinnerung an das Tiananmen-Massaker. Doch wer die Herrschaft über Taiwan anstrebt und die Kontrolle Hongkongs beansprucht, kann solchen Fragen nicht aus dem Weg gehen.“
„Wenn die Welt uns nicht mehr für China hält, wer sind wir dann?"
Die japanischen Villen mit ihren schönen Holzarbeiten stehen für ein anderes schwieriges Kapitel. Taiwan war 1895 unter japanische Herrschaft gekommen. Die Einwohner mussten Japanisch lernen. Lung deutet auf Gedicht-Manuskripte in den Schaukästen. „Wir Chinesen wurden zu Exilanten im eigenen Land – zwei Mal.“ Nach Japans Niederlage 1945 mussten alle wieder Mandarin lernen. Manche Schriftsteller schrieben lange weiter in Japanisch, der Sprache ihrer Schuljahre. Der zweifache aufgezwungene Identitätswandel sei wichtig, um Taiwans heutige Politik zu verstehen, betont Lung.
„Wenn die Welt uns nicht mehr für China hält, wer sind wir dann? Wir schrieben neue Lieder und neue Bücher über uns. Die Schulkinder lernten Taiwans Geografie. Zuvor hatten die Flussnamen auf dem Festland den Unterricht dominiert. Wir sind klein im Vergleich zu China, aber mittlerweile glücklich und im Einklang mit uns.“
Nur eines fehle: Dass die Welt Taiwan auch so wahrnehme. „Wo ist bei einem Schriftstellerkongress unser Platz?“, fragt Lung. „China gilt für uns nicht, Taiwan schreiben sie aber auch nicht auf unser Namensschild.“ Umgekehrt meiden hochrangige Besucher die Insel. Sie empfindet das als ungerecht. „Die Schulkinder anderswo lernen, wenn Staatsgäste kommen, wo diese zu Hause sind. Unseren Schulkindern enthält man diese Erfahrung vor.“ Bei der Überwindung von Taiwans Isolation könne die Kulturdiplomatie helfen.