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Bloß keine Becquerel. Bei einer West-Berliner Protestaktion nach der Tschenobyl-Katastrophe 1986 wird als Warnung vor verstrahlten Lebensmitteln Milch weggeschüttet.
© dpa/picture alliance

Tschernobyl und Berlin vor 30 Jahren: Als Diepgen demonstrativ zwei Salatköpfe kaufte

Nach dem Tschernobyl-Unglück fürchteten sich viele in West-Berlin vor der Atomwolke. Und im Ostteil gab es plötzlich viel Gemüse.

Kinobesuchern ist das Wetter draußen vor der Tür ziemlich schnuppe, nicht jedoch an diesem 7. Mai 1986. Es muss wohl das Yorck in Kreuzberg gewesen sein, aber das ist so unwichtig wie der Film. Von Bedeutung waren nur die dunklen Wolken, die sich am Abendhimmel versammelt hatten, von manchem vor Betreten des Kinos mit sorgenvollem Blick bedacht. Die Anfangsminuten wie gewohnt: Werbung, Vorschau, die ersten Filmszenen – bis einer der Zuschauer, wie auch immer er dies mitbekommen haben mag, laut Nachricht gab: „Draußen regnet’s.“ Allgemeines Aufstöhnen.

All die strahlenden Staubpartikel aus Tschernobyl, die seit Tagen in mal höherer, mal geringerer Dosierung über der Stadt geschwebt hatten – nun waren sie aus der Luft herausgespült worden, legten sich auf Gehwege und Straßen, auf Wiesen, Spielplätze, Gemüsebeete, eine unsichtbare, kaum einschätzbare, darum um so unheimlichere Bedrohung.

Am 26. April 1986 war das Atomkraftwerk in der fernen Ukraine in die Luft geflogen, erst zwei Tage später gaben die sowjetischen Behörden dies in einer dürren Kurzmeldung bekannt, nachdem sich erhöhte Strahlenwerte in Schweden und Finnland nicht länger leugnen ließen. In West-Berlin tauchte Tschernobyl erstmal in Gestalt zweier finnischer Bauarbeiter auf, die aus Kiew nach Berlin geflogen waren und erhöhte Strahlenwerte aufwiesen. Zwar keine bedenklichen, wie sich zeigte, aber es wurde auch deutlich, wie unzureichend die Behörden auf das, was da herantrieb, vorbereitet waren. Es war sogar unklar, ob nun Feuerwehr oder Polizei für den Transport ins Krankenhaus zuständig war. Letztere bekam den Zuschlag, musste aber erst mal ein Fahrzeug umrüsten.

Zur Verunsicherung trugen die Behörden selbst bei

Auf solche Unsicherheiten wollten sich viele in West-Berlin nicht einlassen und kauften erst mal den Apotheken ihre Vorräte an Jodtabletten weg, denen eine vorbeugende Wirkung gegen Verstrahlung zugeschrieben wurde. Der Geschäftsführer der Apothekerkammer sah hier „Panik“ am Werke, und Ärzte warnten, eine falsche Tablettendosierung sei schädlicher als das bisschen Strahlung.

Unter der Atomwolke. Am 1. Mai 1986 genießen viele noch das schöne Wetter, aber...
Unter der Atomwolke. Am 1. Mai 1986 genießen viele noch das schöne Wetter, aber...
© Archiv

Zur Verunsicherung trugen die Behörden selbst bei. So ließ die Gesundheitsverwaltung eine Woche nach dem Reaktorunfall erst 24 000 Liter Milch aus der DDR beschlagnahmen, weil ihnen die gemessenen Strahlenwerte verdächtig schienen, gab sie aber doch wieder frei, nachdem das Bundesinnenministerium einen ungleich höheren Grenzwert für eine mögliche Gefährdung festgelegt hatte.

Auf jeden Fall wurde wieder und wieder gemessen, die Mitarbeiter der Strahlenmessstelle, in den fünfziger Jahren als Reaktion auf die damals oberirdischen Atombombentests gegründet, machten Überstunden. Heute sieht man dort die Aufregung von damals eher gelassen: „Die zusätzliche Dosisbelastung der Berliner Bevölkerung im Zeitraum nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl betrug weniger als fünf 5 % der mittleren Strahlenexposition durch natürliche Radionuklide – das ist etwa soviel wie die Zusatzbelastung durch die Höhenstrahlung bei einem Transatlantikflug“, liest man auf ihrer Website.

Damals aber schwirrten allgegenwärtig Begriffe wie Becquerel, Jod 131, Cäsium 137, Strontium 90 und Plutonium 239 durch die Luft, dass einem schon davon ganz schwummerig werden konnte. Lastwagen mit Lebensmitteln aus Polen, aber auch aus dem Bundesgebiet wurden kontrolliert und teilweise wieder zurückgeschickt, wenn der auf 250 Becquerel pro Kilo festgelegt Grenzwert überschritten wurde. Gemüse aus eigenem Anbau solle man lieber nicht mehr verzehren, wurde empfohlen. Später wurden der Verkauf von Kräutern und Blattgemüse aus Berliner Anbau ganz untersagt.

Besonders Schnittlauch und Liebstöckel hatten sich als wahre Strahlensammler erwiesen, der Gatower Bauer Bathe, der unter West-Berliner Landwirten eine gewisse Prominenz genoss, musste gar die gesamte Schnittlauchernte unterpflügen. Sogar Frischmilch geriet unter Verdacht, die Berliner Abmelkbetriebe konnten immerhin darauf verweisen, dass ihre Kühe strahlensicher in Ställen untergebracht waren und derzeit nur Heu des Vorjahres zu fressen bekämen. In Steglitz empfahl das Schulamt den Verzicht auf Sportunterricht im Freien. Spielplätze waren ohnehin verwaist.

Sollten junge Mütter stillen - und der Senat Trockenmilch-Vorräte freigeben?

Teilweise wirkten die Reaktionen in der Bevölkerung auf die ungewohnte Bedrohung etwas hysterisch. Wo bitteschön, wollte mancher Anrufer bei den eingerichteten Bürgertelefonen wissen, bekomme man zuverlässige Geigerzähler? Zu teuer, wurde ihnen beschieden, lieber nicht selber messen. Doch es gab auch heroische Versuche, die Unruhe einzudämmen. So ist der demonstrative Kauf von zwei Salatköpfen auf dem Wochenmarkt vor dem Rathaus Schöneberg durch den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen verbürgt. Sie seien von ihm, dem Umwelt-, dem Innen- und dem Gesundheitssenator sowie dem Chef der Senatskanzlei verzehrt worden, teilte der Senatspressesprecher danach mit.

Geholfen hat die Rohkost-Probe nicht viel. Zu unterschiedlich waren die Angaben zu Grenzwerten und Gesundheitsrisiken, die auf die Verbrauchen niederprasselten, zu ungewiss, was zu tun sei. Sollte man Klärschlamm wie gehabt verbrennen oder würden die Becquerels dadurch nur erneut freigesetzt? Sollten junge Mütter stillen? Der Senat die eingelagerte Trockenmilch, an sich für eine erneute Blockade vorgesehen, freigeben?

Alles Fragen, die die West-Berliner Öffentlichkeit wochenlang beschäftigten, in Ost-Berlin aber offiziell kaum eine Rolle spielten. Natürlich waren die Menschen dort durch die West-Sender ebenfalls gut informiert, dürften auch die ADN-Meldung, dass die höchsten radioaktiven Werte „in München und Regensburg sowie in Berlin (West) gemessen“ worden seien, richtig interpretiert haben. Als wenn Becquerel vor der Mauer Halt machten... Viele Mütter im Osten hielten jedenfalls ihre Kinder auch an, nicht im Sand zu spielen. Manche aber lachten auch nur über die Hysterie im Westteil der Stadt.

Während die Ost-Berliner also mit Informationen offiziell knapp gehalten wurden, hatten sie anderes geradezu im Überfluss: Die Gemüsestände zeigten plötzlich ungewohnte Fülle, weil die sonst in den Westen verkauften Frischwaren dort plötzlich nicht mehr abgenommen wurden. Grund zum Strahlen war das nicht.

Musikalische Spätfolgen der Tschernobyl-Katastrophe

Und die Ost-Berliner werden auch die musikalischen Spätfolgen der Tschernobyl-Katastrophe miterlebt haben, als eifrige Hörer der Berlin-Charts von Rias 2, in denen Mitte August plötzlich ein Song von Wolf Maahn und Band auftauchte, der Super-Gau als Ohrwurm: „Oooo Tschernobyl, das letzte Signal vor dem Overkill. Aaaa, stoppt die AKWs!“ Ein Stück in bester „Atomkraft – nein, danke!“-Tradition, von Maahn und seinen Gesellen auch auf dem Anti-Atom-Festival am 17. August in der Waldbühne vorgetragen und pflichtschuldig bejubelt.

Eine unabhängige Strahlenmessstelle sollte mit dem Erlös finanziert werden, für den edlen Zweck hatten die Mitwirkenden auf ihre Gage verzichtet. Wolf Maahn eben, Klaus Lage, Alphaville, Ulla Meinecke, Konstantin Wecker, Herwig Mitteregger, Peter Maffay, Heinz Rudolf Kunze – die Crème de la Crème der deutschen Rock- und Popszene hatte sich versammelt, um den Atomen den Kampf anzusagen, leider immer wieder unterbrochen durch Umbaupausen, die mit Belehrungen über die Gefahren der Becquerel und die Unfähigkeit der Politiker gefüllt wurden.

Die stillenden Mütter zeigten ihre Betroffenheit, eine Molekularbiologin referierte über die Auswirkungen der Strahlen auf den genetischen Code, und sogar Trude Unruh, Bundesvorsitzende der Grauen Panther, war aufgeboten worden. Bei der mochte das der Belehrungen längst überdrüssige Publikum kaum noch zuhören, forderte energisch „Zugabe, Zugabe“, und damit war keineswegs die Graue Pantherin gemeint. Der blieb nur noch ein hilfloses „Ich will euch doch ’ne Botschaft bringen“.

Aber die wollten die 16.000 Besucher nicht, lieber wollten sie Rio Reisers „Alles Lüge“ hören und natürlich Udo Lindenberg. Der hatte nicht Tschernobyl im Programm, sondern bot lieber Ratschläge für zwischenmenschliche Katastrophen: „Nun nimm das nicht alles so tragisch, mein Sohn, die anderen Süßen, die warten ja schon.“ Die Lederhose war knalleng wie immer, der Hut saß fast im Gesicht, das Mikrofon wirbelte, die Mädchen strahlten. Hurra, wir lebten noch.

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