Der Tag nach dem Terrorangriff: Trotz und Trauer in London
„Wir haben keine Angst“, sagt die britische Premierministerin. Doch nach dem Anschlag in London ist ihr Land alles andere als geeint. Die einen wollen Rache – die anderen einfach ihre Ruhe.
Nur der Lärm der Hubschrauber durchbricht die Stille. Es ist der Tag nach dem tödlichen Angriff im Zentrum Londons. Die Westminster Bridge, die zum britischen Parlament führt, ist verwaist. Polizisten in Signalwesten sichern die Zugänge. In der Mitte der Brücke steht ein Zelt, das Forensiker aufgebaut haben, Zentimeter für Zentimeter suchen sie den Tatort nach Spuren ab. Hier hat am Tag zuvor der 52-jährige Khalid Masood aus Kent einen Geländewagen in die Menge gesteuert, zwei Menschen getötet, Dutzende verletzt.
Auf der anderen Seite der Brücke, im Parlament, geht unterdessen der Alltag weiter. Die Abgeordneten des Unterhauses befragen Regierungsvertreter zu internationalem Handel und der Gleichberechtigung von Frauen. Es ist eine bewusste Entscheidung. Demonstrative Normalität.
Westminister ist ein symbolischer Ort
Gegen 10.30 Uhr unterbricht Premierministerin Theresa May dann doch die Debatte. May tritt an das Rednerpult. Sie trägt Schwarz, sagt: „Gestern wurde versucht, mit einem Terrorakt unsere Demokratie zum Schweigen zu bringen. Aber heute treten wir wie gewohnt zusammen, so wie es Generationen vor uns getan haben und wie es zukünftige Generationen tun werden, um eine einfache Botschaft zu vermitteln: Wir haben keine Angst, und unsere Entschlossenheit wird niemals dem Terrorismus weichen.“
Pathetische Worte, aber es war eben auch ein besonders symbolischer Ort, dem die Attacke galt. Westminster, Heimat eines der ältesten parlamentarischen Systeme der Welt. Theresa May sagte, der Terrorist sei „zu dem Ort gekommen, an dem sich Menschen aller Nationalitäten und Kulturen treffen, um zu zelebrieren, was es bedeutet, frei zu sein“.
Unter den mehr als 40 Opfern des Angriffes seien Briten, Franzosen, Rumänen, Südkoreaner, Griechen sowie Menschen aus Deutschland, Polen, Irland, China, Italien und den USA. Zwei Polizisten, die bei der Amokfahrt ebenfalls verletzt worden seien, schwebten noch in Lebensgefahr.
Acht Personen festgenommen
Inzwischen ist bestätigt, dass noch in der Nacht in Birmingham und London acht Personen festgenommen wurden. Offenbar gehen die Ermittler aber weiter davon aus, dass der Angreifer alleine gehandelt habe. Seine Identität war Polizei und dem Inlandsgeheimdienst MI5 schon kurz nach dem Anschlag bekannt, wurde aber aus ermittlungstaktischen Gründen erst gestern Abend öffentlich gemacht.
Deutsche Nachrichtendienste und die Polizei wurden ebenfalls erst spät darüber informiert, was die britischen Behörden über den Täter zu wissen glauben. Demnach ist der Terrorist in Großbritannien geboren, hatte pakistanische Eltern und stammte offenbar aus Birmingham. Mittlerweile hat der IS den Anschlag für sich reklamiert.
Die britische Hauptstadt ist bereits mehrfach von Terroristen attackiert worden, die Parallelen sind offensichtlich: Drei der vier Selbstmordattentäter, die am 7. Juli 2005 in London 56 Menschen in den Tod rissen, hatten ebenfalls pakistanische Wurzeln. Birmingham gilt seit langem als Zentrum militanter Islamisten. 2011 hob die Polizei in der Stadt eine von Al Qaida radikalisierte Terrorzelle aus, die Bombenanschläge geplant hatte, bei denen mehr als 2000 Menschen sterben sollten. Zwei Anführer hatten in pakistanischen Terrorcamps trainiert.
Täter als "Randfigur" eingestuft
Und auch der Täter von Westminster war den Behörden bereits bekannt. Vor einigen Jahren wurde gegen ihn ermittelt, weil die Behörden befürchteten, dass er gewalttätigem Extremismus zugeneigt sein könnte. Er sei jedoch nur als „Randfigur“ eingestuft worden, von der keine Gefahr ausgehe.
Dabei folgte der Angriff einem gewohnten Muster. „Das passt alles zum Konzept des Do-it-yourself-Terrors, das der IS und Al Qaida propagieren“, heißt es in Sicherheitskreisen. Im September 2014 hatte der damalige Sprecher des IS, der Syrer Abu Mohammed al Adnani, in einer Audiobotschaft die Anhänger der Terrormiliz dazu aufgerufen, die verhassten Ungläubigen zu attackieren. „Zerschlagt ihre Köpfe mit einem Stein, schlachtet sie mit einem Messer, überfährt sie mit einem Auto, werft sie von einem hohen Punkt, erstickt oder vergiftet sie.“
Die Botschaft kam an. In Nizza, wo am 14. Juli 2016 der Tunesier Mohamed Lahouaiej Bouhlel mit einem Lastwagen über die Promenade des Anglais raste und 86 Menschen tötete. In Berlin, wo Anis Amri am 19. Dezember 2016 einen Truck kaperte und zwölf Menschen ermordete. Und nun motivierte Adnanis Hetze womöglich auch den Täter in London. In Antwerpen stoppte die Polizei dann am Donnerstag einen Mann, der mit hoher Geschwindigkeit durch eine Einkaufsstraße raste. In seinem Kofferraum fanden Polizisten Waffen. Womöglich wurde nur knapp ein weiterer Anschlag verhindert.
„Das Tatmittel Fahrzeug ist für Terroristen leider ideal“, sagt ein hochrangiger Sicherheitsexperte. „Jeder kann sich einen Wagen besorgen und damit in eine Menschenmenge rasen. Der ganze Aufwand für den Bau einer Bombe entfällt.“ Selbst ein streng bewachtes Areal wie die Umgebung des britischen Parlaments sei kaum zu schützen, wenn in der Nähe eine vielbefahrene Straße verlaufe. Neu ist allerdings, dass der Attentäter von London nicht nur sein Auto in die Menschenmenge fuhr, sondern auch danach noch mit dem Messer auf einen Polizisten losging. Die Behörden fürchten Nachahmer.
Genau darauf setzt der IS. Die Terrormiliz hat im Oktober 2016 in ihrem Internet-Magazin „Rumiyah“ detailliert erklärt, wie Messerattacken auszuführen sind: Wie man sich an das Opfer heranschleicht, wo es besonders verwundbar ist, welches Stichwerkzeug geeignet ist und welches nicht, weil sich der Mörder selbst verletzen könnte, wenn die Faust beim Angriff in die Klinge rutscht.
In Gedanken bei den Opfern
In London stand am Tag danach neben der Aufklärung das Mitgefühl mit den Betroffenen im Mittelpunkt. Bei den auf der Brücke Getöteten handelt es sich um einen US-Amerikaner, der mit seiner Frau in London seine Silberhochzeit feierte, und eine Britin mit spanischen Wurzeln. Der niedergestochene Polizist war ein 48 Jahre alter Familienvater. Am Donnerstagabend erlag ein weiteres Opfer, ein 75-jähriger Mann, seinen schweren Verletzungen. „Meine Gedanken, Gebete und mein tiefstes Mitgefühl sind bei all denen, die von der gestrigen furchtbaren Gewalt betroffen sind“, sagte Queen Elizabeth II. am Donnerstag.
Im Parlament bleibt Theresa May kämpferisch. „Wir gehen davon aus, dass der Angreifer von der islamistischen Ideologie inspiriert worden ist“, sagt sie. Niemand solle sich jedoch von dieser „sehr realen Bedrohung“ einschüchtern lassen. Seit 2013 seien schon 13 geplante Terroranschläge verhindert worden. In den kommenden Tagen werde landesweit die Polizeipräsenz erhöht. May blickt nach oben, in Richtung der Besuchergalerie, wo Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault als Gast sitzt. „Sir, wir wissen Ihre Anwesenheit und Ihre Solidaritätsbekundung zu schätzen“, sagt May.
Auf den Straßen Londons spürt man, abgesehen vom Stau rund ums abgesperrte Regierungsviertel, vom Horror des Vortages kaum etwas. Im Berufsverkehr sind die Menschen höchstens noch etwas höflicher als ohnehin schon. Vielleicht ist diese Gelassenheit eine sehr britische Art und Weise auf die Gewalt zu reagieren.
Der zur Schau gestellten Normalität zum Trotz ist die britische Gesellschaft seit dem Brexit-Referendum zutiefst gespalten. Und so verwundert es nicht, dass sich die Briten alles andere als einig darin sind, was aus dem Anschlag nun folgen soll. Die Boulevardzeitung „Sun“ etwa ruft dazu auf, die Zahl der bewaffneten Polizisten landesweit zu erhöhen. „Das schien nicht richtig zu sein, aber die Welt hat sich verndert“, liest man dort. Auf der Titelseite prangt ein Foto des Angreifers, wie er auf einer Trage liegt und versorgt wird. Der Mann ist klar zu erkennen. Die „Sun“ titelt: „Der Wahnsinnige, der Großbritannien ins Herz gestochen hat“.
Von wegen eingeschüchtert
Auf der Website der „Daily Mail“ schreibt die umstrittene Kolumnistin Katie Hopkins, die auch schon einmal dazu aufgerufen hat, Flüchtlingsboote im Mittelmeer mit Kampfhubschraubern anzugreifen: „London ist eine Stadt der Ghettos hinter einem dünnen Anstrich von Anstand, der von einem muslimischen Bürgermeister poliert wird.“ Als Hopkins, die erst kürzlich wegen Diffamierung zur Zahlung einer sechsstelligen Geldstrafe verurteilt worden ist, in einem Interview mit dem US-Nachrichtensender Fox News auch noch behauptet, die Menschen in Großbritannien seien „eingeschüchtert, verängstigt“, reagieren viele Briten mit Spott. Die „Daily Telegraph“-Kolumnistin Rebecca Reid zum Beispiel schreibt: „Das ist Schwachsinn, uns geht es gut. Katie hat vermutlich heute morgen nicht die Tube genommen, so wie wir anderen alle.“
Denn dann hätte sie in den U-Bahn-Stationen die vielen Schilder mit ihren Botschaften sehen können, mit denen die Londoner sich selbst Mut machen wollen. Auf einem ist in dicken Filzstiftbuchstaben zu lesen: „Schlimme Dinge passieren in der Welt. Aber aus diesen Situationen erwachsen immer Geschichten von gewöhnlichen Menschen, die außergewöhnliche Dinge tun.“ Und im Parlament zitiert ein Abgeordneter die Botschaft eines Bildes, das sich schnell im Internet verbreitet hatte: „Alle Terroristen werden höflichst daran erinnert, dass das hier London ist und dass wir – egal was ihr uns auch antut – Tee trinken und uns nicht unterkriegen lassen werden.“