Sprengsatz in Hand explodiert: Toter bei Protesten in Belarus
Lukaschenko lässt sich zum Wahlsieger erklären. Doch die Opposition leistet Widerstand – und ein Demonstrant kommt ums Leben.
Bei den blutigen Zusammenstößen in Weißrussland ist am Montagabend ein Demonstrant ums Leben gekommen. In der Hand des Mannes sei ein Sprengsatz explodiert, den er auf Spezialeinheiten der Polizei habe werfen wollen, teilten die Behörden in Minsk mit.
Um was es sich dabei handelte, sei nicht bekannt. Der Demonstrant sei seinen schweren Verletzungen erlegen. Zuvor war es nach Darstellung der Behörden an einer Barrikade zu einer Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen.
Damit ist die Situation in Weißrussland weiter eskaliert. Für Alexander Lukaschenko, den Machthaber, der seit einem Vierteljahrhundert an der Spitze Weißrusslands steht, sollten angeblich vier von fünf Wählern gestimmt und ihm damit eine sechste Amtszeit gesichert haben. Swetlana Tichanowskaja wies das zurück: „Ich vertraue meinen eigenen Augen – die Mehrheit war für uns.“ Am Montagmorgen gab die Wahlkommission das offizielle Ergebnis bekannt: Lukaschenko 80,23 Prozent, Tichanowskaja 9,9 Prozent.
Der Vorwurf massiver Wahlfälschung stand sofort im Raum. Befragungen nach der Wahl, die von der unabhängigen Organisation „Golos“ durchgeführt wurden, hatten einen klaren Vorsprung für Tichanowskaja ergeben. Unabhängige Beobachter in den Wahllokalen gab es nicht. Tagsüber hatten Journalisten unabhängiger Medien vielfach über Verletzungen des Wahlgeheimnisses und demonstrative Festnahmen vor Wahllokalen berichtet. Ein Video machte die Runde, in dem zwei Frauen, von der Polizei begleitet, große schwarze Säcke aus einem Wahllokal heraustrugen.
Der Unmut von Hunderttausenden entlädt sich
In der Nacht zum Montag hatte sich auf den Straßen der Hauptstadt Minsk und in vielen Städten des Landes dann auch nicht Lukaschenkos angebliche Mehrheit versammelt, um den „Sieg“ zu feiern. Vielmehr entlud sich landesweit auf den Straßen der Unmut von Hunderttausenden, die gegen das Regime Lukaschenkos auf die Straße gingen. Das Land sah die größten Proteste seit der Erlangung der Unabhängigkeit vor 30 Jahren. Die Sicherheitskräfte gingen mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen gegen die Menschen vor. Der Sieg über die Angst, von dem Tichanowskaja sprach, hatte einen hohen Preis: Hunderte wurden verletzt. Die Menschenrechtsorganisation „Wesna“ berichtete von einem Toten, was die Sicherheitskräfte dementierten. 3000 Menschen wurden festgenommen, ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft. Das gab die Ermittlungsbehörde, ein Justizorgan neben der Staatsanwaltschaft, am Montag bekannt.
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Staatschef Lukaschenko machte am Montag „Kräfte aus dem Ausland“ für die Demonstrationen verantwortlich. Er nannte dabei nicht nur Polen und die Ukraine. Auch aus dem „befreundeten Russland“ seien Kräfte eingesickert, um das Land zu destabilisieren. Kurz vor der Wahl hatten weißrussische Sicherheitsbehörden eine Gruppe von Söldnern der russischen Privatarmee „Wagner“ festgenommen, die nach Lukaschenkos Darstellung die Aufgabe gehabt haben sollen, sein Land zu destabilisieren.
Trotz der weißrussisch-russischen Differenzen vor der Wahl gehörte Russlands Präsident Wladimir Putin zu den ersten, die Lukaschenko zum offiziellen Ergebnis gratulierten. Aus russischer Sicht sei das wichtigste, dass der Nachbar stabil bleibe, hatte Putin schon vorher erklärt. Die Wahl im Nachbarland habe einen paradoxen Ausgang, meint der russische Politologe Gleb Pawlowski. Der frühere Putin-Berater, der sich inzwischen vom Kreml abgewandt hat, ist der Auffassung, Russland habe nun in Lukaschenko einen stark geschwächten Partner. Dessen Machtverlust sei „katastrophal“, nicht nur die Person des Präsidenten, sondern das ganze System sei im Niedergang. „Eine Lösung wäre der freiwillige Rücktritt Lukaschenkos“, so Pawlowski. „Doch er hat gezeigt, dass er das nicht will.“ An einem Fall Lukaschenkos sei Moskau auch nicht interessiert, meinen andere russische Experten. Das könnte der russischen Opposition Hoffnung machen, glaubt der Politologe Abbas Galljamow.
Sanktionen gefordert
Die EU reagierte zurückhaltend auf die Wahl. „Wir werden die Entwicklungen weiterhin sehr genau verfolgen, um dann zu beurteilen, wie eine Antwort und die Beziehungen der EU zu Belarus auszugestalten sind (...)“, teilten der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und der für die EU-Nachbarschaft zuständige Kommissar Olivér Várhelyi am Montag mit. Bislang gehört das Land noch zu den Staaten der Östlichen Partnerschaft. Mit ihnen wird eigentlich eine enge wirtschaftliche und politische Kooperation angestrebt.
Die EU müsse nach dieser Wahlfarce ihr Sanktionsregime gegen die Machthaber in Weißrussland wieder voll in Kraft setzen, fordert der osteuropapolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Manuel Sarrazin. „Die Hoffnung auf Veränderungen hat sich in der Nacht zum Montag zerschlagen. Lukaschenko kann kein Ansprechpartner für den Westen sein“, sagte Sarrazin dem Tagesspiegel. Das Auftreten der Opposition mache jedoch Hoffnung: „Vielleicht erleben wir gerade die Geburtsstunde einer neuen Freiheitsbewegung“, meint der Grünen-Politiker. Die Bundesregierung müsse sich jetzt für eine Freilassung der politischen Gefangenen und ein Ende der Repressionen einsetzen. Die äußerte am Montag „große Zweifel“ an der Wahl. „Ganz offenkundig“ seien „die Mindeststandards für demokratische Wahlen nicht eingehalten“ worden, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. (mit dpa, AFP)