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Eine Seniorin betritt mit ihrer Gehhilfe den Eingang eines Senioren-Wohnstifts. Wie weit soll die Isolierung gehen?
© Daniel Karmann/dpa

Martenstein über Kontaktsperre: Totalitarismus der Fürsorglichkeit

Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass man uns selbstverständliche Freiheiten nimmt. Was unser Kolumnist zu den Corona-Einschränkungen sagt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Harald Martenstein

Wem gehört mein Leben? Entweder mir selber oder, falls ich gläubig bin, Gott. Dem Staat gehört es nicht. Er hat das Recht, Soldaten in den Krieg zu schicken, aber auch dieses Recht findet bei uns seine Grenze in dem Recht, den Kriegsdienst zu verweigern.

Darf man älteren Menschen das Recht nehmen, vor die Tür zu gehen, mit der Begründung, sie seien besonders gefährdet? So etwas könnte unter Umständen demnächst kommen, Lockerung der Ausgangssperre, aber nur für diejenigen, die nicht zu einer Risikogruppe gehören. Ich hielte das für fragwürdig.

Corona-Risiko ist persönliches Risiko

Es ist zweifellos richtig, Corona-Infizierte zur Quarantäne zu zwingen, denn sie sind eine Gefahr für andere. Deshalb ist es so wichtig, allen die Möglichkeit zu verschaffen, sich bei dem geringsten Verdacht schnell testen zu lassen, nicht erst, wenn die Krankheit fortgeschritten ist.

Ob ich als Mensch von 70, 80 oder 90 Jahren bereit bin, mich selbst einem Risiko auszusetzen, ist meine Sache, vorausgesetzt, ich bin noch bei klarem Verstand. Vielleicht hänge ich an den Jahren, die mir noch vergönnt sind, dann bleibe ich zu Hause. Vielleicht denke ich, dass es kommen soll, wie es halt kommt.

Ein 90-Jähriger steckt sich, nach allem, was man bisher weiß, nicht anders an als ein 20-Jähriger, er stellt für seine Mitmenschen also keine größere Gefahr dar als jener. Darf man Menschen ihrer Grundrechte berauben, mit der Begründung, man müsse sie vor einem Risiko schützen, das sie einzugehen bereit sind?

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Wieso dürfen Alte dann noch Treppen steigen und Motorrad fahren? Viel sinnvoller wäre es, die Alten regelmäßig auf ihre Fahrtüchtigkeit zu checken, das betrifft die Allgemeinheit.

Das Allgemeinwohl und Freiheitsbeschränkung

Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass man uns selbstverständliche Freiheiten nimmt. Es gibt dafür nur eine einzige zulässige Begründung, das Allgemeinwohl, zum Beispiel den Schutz des Lebens und der Gesundheit der anderen.

Deshalb müssen wir im Auto auf unser Tempo achten, deshalb dürfen wir unsere Großeltern nicht im Heim besuchen, deshalb bleiben wir zu Hause. Wir dürfen aber versuchen, ohne Sauerstoffgerät Achttausender zu besteigen, Zigaretten rauchen oder nachts den Kühlschrank plündern. Das betrifft nur uns. Müssen wir über Geld reden? Wer krank wird, kostet, das stimmt. Aber wer stirbt, entlastet die Rentenkasse.

Was ist das Leben noch wert, wenn es uns (oder Gott) nicht mehr gehört? Kurz bevor wir alle das Wort „Corona“ gelernt haben, hat das Bundesverfassungsgericht die gewerbsmäßige Sterbehilfe erlaubt. Es gebe für Todkranke ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.

Aber die Alten sollen, im Bewusstsein ihres Risikos, nicht mehr das Recht haben, am Leben der anderen teilzunehmen? Es gibt eine Art Totalitarismus der Fürsorglichkeit.

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