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Die Wohntürme stehen nur einen halben Kilometer vom Ort der Katastrophe entfernt. Mehr als 6000 Menschen haben ihre Wohnungen verloren, weil sie durch die Explosion oder die darauf folgenden Brände zerstört worden oder unbewohnbar geworden sind.
© China Daily/Reuters

Explosionskatastrophe in China: Tianjin am Abgrund

Die schweren Explosionen in Tianjin erschüttern China – sie sind auch für die Regierung in Peking gefährlich. Wieso mussten so viele Menschen sterben?

Ein riesiger Krater, ausgebrannte Autos, zerstörte Häuser: Nach zwei gewaltigen Explosionen am Dienstag und weiteren kleineren Detonationen in den Tagen darauf ist die Zahl der Toten auf 112 gestiegen. 95 Personen werden vermisst, davon 85 Feuerwehrleute. Mehr als 700 Verletzte werden in den umliegenden Krankenhäusern behandelt. Schlamperei der Behörden, das Nichteinhalten von Vorschriften und die Unkenntnis der Feuerwehr darüber, was in den Lagerhäusern gelegen hat, haben bei der Katastrophe eine Rolle gespielt. Das erste Zeichen des chinesischen Namens von Tianjin bedeutet Himmel (Tian), stattdessen hat sich nun der Abgrund aufgetan. Die Chinesen haben viele Fragen.

Wie ist der aktuelle Stand an der Unfallstelle?

Der Großbrand ist nach wie vor nicht unter Kontrolle, nachdem es auf dem Gelände der chinesischen Logistikfirma Dongjiang Port Rui Hai zwei gewaltige Detonationen gegeben hatte. Augenzeugen berichteten über ein Feuer „wie ein Atompilz“ und dass die Druckwellen der Explosion noch über zehn Kilometer zu spüren waren. Mehr als 1000 Feuerwehrleute sind weiterhin im Einsatz. Immer noch steigen schwarze Rauchwolken über dem Hafengelände in den Himmel. Die Zeitung „Beijing Times“ hat darüber berichtet, dass die Behörden das Hafengelände im Umkreis von drei Kilometern aus Angst vor giftigen Gasen evakuieren wollen. Ein Regierungssprecher der Stadt Tianjin dementierte dies laut CNN. Allerdings berichteten später auch staatliche Medien über Evakuierungen. Mehr als 6300 Menschen sind in Tianjin durch die Explosion obdachlos und meist in Schulen untergebracht worden. Zeitweise musste eine Schule wieder geräumt werden, weil der Wind die giftigen Gase in diese Richtung wehte. Das Chemikalienlager in Tianjin lag nur 500 bis 600 Meter von Wohnsiedlungen entfernt. Die Anwohner wurden aufgerufen, Atemmasken zu tragen.

Wer löscht den Brand?

Die Mehrheit der Feuerwehreinheiten wird vom Ministerium für öffentliche Sicherheit kontrolliert. Und die Mitglieder sind Teil der Volksbefreiungsarmee. Mehr als 124 000 stehen im Dienst der Zentralregierung. Lokalregierungen können aber auch eigene Feuerwehrkräfte aufstellen, und dann gibt es noch private Firmen, Flughäfen, Hafen, Ölfelder, die ihre eigenen Löschteams haben. Die meisten Feuerwehrleute, die in Tianjin vermisst werden, waren beim staatlichen Hafenbetreiber Tianjin Port Holdings eingestellt. Der muss sich nun der Frage stellen, ob er die Feuerwehrleute für solche Situationen geschult hatte. Seit Freitag ist bekannt, dass die Einheit der Armee für nukleare und chemische Zwischenfälle den Fall untersucht.

Angehörige von Feuerwehrleuten versuchen sich in Tiangjin Gehör zu verschaffen. 95 Menschen werden noch vermisst. Davon sind 85 Feuerwehrleute.
Angehörige von Feuerwehrleuten versuchen sich in Tiangjin Gehör zu verschaffen. 95 Menschen werden noch vermisst. Davon sind 85 Feuerwehrleute.
© AFP

Bisher haben sich vor allem die Verwandten der Vermissten auf eigene Faust auf die Suche nach ihren Familienmitgliedern gemacht. Im Netz häufen sich Fragen, warum es keine Listen der Feuerwehrleute gibt, die im Einsatz waren. Bei den Hafenarbeitern, die als vermisst gelten, wird es vermutlich noch viel länger dauern, ihre Identität zu klären. Meist arbeiten sie als Wanderarbeiter und sind daher nicht nur schlecht dokumentiert, sondern haben auch keine Angehörigen in der Nähe, die sie als vermisst melden könnten.

Was hat die Katastrophe ausgelöst?

Die Verantwortlichen hielten sich lange bedeckt mit Details über die Ursache der gewaltigen Explosionen. Nachdem die Zeitung „Xinjingbao“ (Beijing News) berichtete, dass auf dem Gelände 700 Tonnen Natriumcyanid gelagert waren, brach in den sozialen Netzwerken im Internet eine Welle der Empörung aus. Denn tritt das Salz einmal in Kontakt mit Wasser, wird hochgiftige Blausäure freigesetzt. Inzwischen hat der General Shi Luze das Vorhandensein von Natriumcyanid bestätigt, berichtet der britische Sender BBC, allerdings ohne eine Mengenangabe. Das Einatmen der Chemikalie kann zum Erstickungstod führen. Natriumcyanid (NaCN) wird in der Industrie vielfältig eingesetzt. Es wird für die Galvanisierung, also Metallüberzüge zum Schutz vor Rost, verwendet. Bei der Härtung von Stahl kommt die Chemikalie zum Einsatz und auch in der Düngemittelindustrie findet sie Verwendung.

Das war nicht der einzige Gefahrstoff, der am Hafen von Tianjing gelagert wurde. Ammoniumnitrat (H4N2O3) gehört zu den Chemikalien, die den Krater erklären können. Die Chemikalie setzt sich aus Ammoniak und Salpetersäure zusammen. Sie wird in der Düngemittel- und der Sprengstoffindustrie verwendet. Das Salz wird als Blaukorn verkauft und als Dünger auch in Kleingärten verwendet. Der Stoff ist aber auch von Terroristen mehrfach missbraucht worden. Der amerikanische Rechtsradikale Timothy McVeigh nutzte den Stoff für seinen Anschlag auf ein Behördengebäude in Oklahoma 1995, der norwegische Rechtsradikale Anders Breivik nutzte ihn 2011 ebenfalls für seinen Anschlag auf ein Ministerium in Oslo. Aber auch islamistische Terroristen haben den Stoff schon verwendet, beispielsweise auf Bali 2002. Drei Düngemittelfabriken sind seit 1921 durch Ammoniumnitrat in die Luft geflogen, bei der BASF in Ludwigshafen 1921, bei AZF in Toulouse 2001 und bei West Fertilizer in Texas 2013.Immer gab es Krater und viele Tote.

Ein Bild der Zerstörung. Das Foto zeigt den Teil des Hafens von Tianjing, an dem sich zwei große und eine Vielzahl kleinerer Explosionen ereignet haben. Ein Grund dafür war auch war die unsachgemäße Lagerung von gefährlichen Chemikalien.
Ein Bild der Zerstörung. Das Foto zeigt den Teil des Hafens von Tianjing, an dem sich zwei große und eine Vielzahl kleinerer Explosionen ereignet haben. Ein Grund dafür war auch war die unsachgemäße Lagerung von gefährlichen Chemikalien.
© dpa

Ebenfalls mit im Spiel war Kaliumnitrat (KNO3), das als Salpeter bekannter ist. Der Stoff wird als Pökelsalz, als Dünger und als Wärmeträger für solarthermische Anlagen genutzt. Vor allem aber als Bestandteil von Schwarzpulver, beispielsweise in der Feuerwerksindustrie. Besonders problematisch für die Feuerwehr dürfte das Vorhandensein von Calziumcarbid (CaC2) sein. Denn mit Wasser bildet die Chemikalie das Gas Acetylen (Ethin), das selbst zerfällt und dabei Explosionen auslöst. Der Stoff wird in der Sprengstoffindustrie, zur Entschwefelung von Eisen und in der Produktion von PVC-Kunststoffen eingesetzt.

Wie ist die Informationslage?

Mittlerweile hat Peking nicht nur den Bericht über das Natriumcyanid gelöscht, sondern auch mehrere andere Seiten im Internet und zudem den heimischen Online-Medien Anweisungen erteilt, keine eigenen Recherchen zu machen, sondern nur noch die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua oder Behördenberichte zu zitieren. Lediglich Bilder von den Aufräumarbeiten dürfen noch gezeigt werden, während Videos und Bilder von der Explosion gelöscht werden sollen. Aufgebrachte Familienmitglieder von vermissten Feuerwehrleuten versuchten am Samstag, eine Pressekonferenz zu stürmen, um sich Gehör zu verschaffen. Eine Frau rief: „Keine der Angehörigen der Löscheinheit Nummer fünf hat irgendwelche Informationen bekommen. Die sind erst 18, 19, höchstens 20 Jahre alt. Sie sind doch noch nicht mal erwachsen.“

Hat die Katastrophe Folgen für die Gesundheit?

Sowohl in der Luft als auch im Abwasser können giftige Chemikalien vorhanden sein. Sicherheits- und Gesundheitsfragen werden in der chinesischen Bevölkerung ausführlich diskutiert. Anlass dazu gibt es genug: Erst vor einem Jahr war eine Reifenfabrik nördlich von Schanghai explodiert. 75 Arbeiter kamen ums Leben, weil sich die Luft aufgrund der zu hohen Feinstaubbelastung entzündete und eine Lüftungsanlage nicht ausreichend funktionierte. Die Pekinger Regierung weiß, dass sie diese Diskussionen ernst nehmen muss. Ende Juni erst war es zu zahlreichen friedlichen Demonstrationen von Anwohnern in der Nähe von Schanghai gekommen. Sie wehrten sich erfolgreich gegen den Bau eines Chemiewerkes und demonstrierten damit öffentlich ihren Anspruch auf gesunde Lebensbedingungen, ohne dass die Behörden versucht hätten, die Protestmärsche zu unterbinden oder zu zensieren. Dazu passt die Forderung von Staatschef Xi Jinping, „aus den blutigen Lektionen zu lernen“.

Hat die Katastrophe politische Folgen?

Offensichtlich überwiegt bei der Regierungspartei gegenwärtig die Angst, die Situation könne aus den Fugen geraten. Anstatt zu versuchen das Vertrauen des Volkes zurückzugewinnen, nimmt Peking nur den alten Weg und greift eisern bei der Berichterstattung durch. Das erhöht letztlich aber nur den Druck auf die Regierung zu handeln. Staats- und Parteichef Xi Jinping und Premier Li Keqiang zeigten sich daher im engen Schulterschluss: Beide versicherten größten Einsatz bei den Rettungsarbeiten. Xi unterstrich auch, dass die Verantwortlichen Rechenschaft ablegen würden. Auch sollen künftig die Kontrollen landesweit verschärft werden. Das Unglück „enthüllt einen Mangel an Sicherheitsbewusstsein bei Unternehmen und eine lockere Umsetzung von Sicherheitsvorschriften“, ließ die Behörde über die Staatsmedien verbreiten.

Was sind die wirtschaftlichen Folgen?

Das Unglück ist für die 15 Millionen-Metropole Tianjin als Wirtschaftszentrum verheerend. Allein 55 Prozent der Wirtschaftsleistung werden über den Hafenumschlagplatz erzielt. Tausende Autos, darunter Volkswagen und Renaults, wurden bei der Explosion zerstört. Die Wolfsburger verlagerten ihre Neuwagen-Transporte nach dem Unglück in den Süden Chinas nach Schanghai und Guangzhou. 40 Prozent aller importierten Autos kamen über den Hafen von Tianjin nach China. Auch andere internationale Firmen wie Airbus und Motorola haben ihren Sitz am Hafen in Tianjin.

Die Behörden haben den Menschen in der riesigen Industriestadt im Nordosten Chinas empfohlen, Atemmasken zu tragen. Diese Arbeiter sind zum Dienst erschienen.
Die Behörden haben den Menschen in der riesigen Industriestadt im Nordosten Chinas empfohlen, Atemmasken zu tragen. Diese Arbeiter sind zum Dienst erschienen.
© Wang Zhao/AFP

Seit 2009 ist der Industrievorort Binhai rasant gewachsen. Der Hafen erstreckt sich mittlerweile über eine Fläche von rund 107 Quadratkilometern und die Länge der Kais misst fast 32 Kilometer. Vor nur zehn Jahren war die gesamte Anlage noch halb so groß und die Menge der umgeschlagenen Güter betrug nur ein Drittel des jetzigen Volumens von 13 Millionen Containern pro Jahr. Der Hafen in Tianjin ist der zehntgrößte der Welt. Nach Informationen der „Volkszeitung“ hat das Grundstück, auf dem gefährliche Güter und Chemikalien gelagert werden, eine Fläche von mehr als 20 000 Quadratmetern.

Könnte eine solche Katastrophe in Deutschland stattfinden?

Es ist nicht sehr wahrscheinlich. Denn über eine Kette von schweren Unglücken haben die deutschen und europäischen Regulierungsbehörden gelernt, wie sie den Umgang mit Gefahrstoffen regeln müssen. Dazu hat beispielsweise der Brand in der Baseler Chemiefabrik Sandoz (heute Novartis) in den 1990er Jahren beigetragen, als das Löschwasser in den Rhein geflossen und dort eine Umweltkatastrophe ausgelöst hatte. Auch ein schwerer Unfall in einer Chemiefabrik von Hoechst (heute Infraserv) 1993 in Frankfurt am Main, als es Gift regnete, hat das heutige Regelwerk stark beeinflusst. Heute gibt es eine Vielzahl von Gefahrgutvorschriften, die von den Behörden überwacht werden und weitere große Katastrophen bisher verhindert haben.

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