50 Jahre Bundeskanzler Willy Brandt: Thierse warnt SPD vor „hektischen und hysterischen“ Reaktionen
SPD-Urgestein Wolfgang Thierse rät seiner Partei, langfristige Ziele in den Blick zu nehmen – und sich mehr um die Menschen in Ostdeutschland zu kümmern.
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse rät der SPD dringend, tragfähige politische Konzepte zu entwickeln und sich nicht in der Tagespolitik zu verlieren. Es gebe „ein wachsendes Bedürfnis, nicht nur tagespolitisch hektisch und hysterisch zu reagieren, sondern sich wieder Ziele zu stellen, die deutlich über den Tag hinausgehen“, sagte Thierse dem Berliner Tagesspiegel in einem Video-Interview zum 50. Jahrestag der Kanzlerwahl Willy Brandts.
Nichts anderes sei der aktuelle Wunsch nach einer anderen Politik gegen die ökologische Katastrophe. An diesem Mittwoch startet in Saarbrücken die erste von 23 Regionalkonferenzen der Sozialdemokraten, auf denen sich die Kandidaten für den Parteivorsitz der Basis vorstellen.
Mit Blick auf die Klimadebatte warnte Thierse gleichzeitig vor Rigorismus. Der Satz der Klimaaktivistin Greta Thunberg, das Klima vertrage keine Kompromisse, sei „von erhabener Wichtigkeit und zugleich falsch“, denn er enthalte einen „antidemokratischen Affekt“. Demokratische Politik funktioniere „nur Schritt für Schritt, immer auch auf dem Weg von Kompromissen“. Wichtig sei, dass die Richtung eindeutig sei, sagte der SPD-Politiker. Vizekanzler Olaf Scholz, der sich zusammen mit Klara Geywitz um den Parteivorsitz bewirbt, hat gerade erst das Schicksal der Großen Koalition an einen Durchbruch in der Klimapolitik geknüpft.
Thierse empfiehlt seiner Partei, sich dabei Willy Brandt zum Vorbild zu nehmen. Brandts großes Verdienst sei, dass er Politik auch für die Menschen gemacht habe, die das nicht selbst für sich tun konnten, unter anderem die Menschen im Osten Deutschlands.
Sehen Sie hier das ganze Interview mit Wolfgang Thierse im Video:
[Mehr zum Thema: Sehen Sie hier das Videointerview mit Außenminister Heiko Maas zu 50 Jahre Bundeskanzler Willy Brandt]
Willy Brandt habe „den großen Redensarten adieu“ gesagt, er habe statt Beschimpfungen durch „mühselige Verhandlungen“ mit den für die Mauer Verantwortlichen die Grenzen durchlässiger gemacht, menschliche Beziehungen gefördert sowie die Einheit des deutschen Volkes verteidigt – und damit das Leben der Menschen ganz konkret verbessert.
Mit Blick auf die Übervater-Rolle Brandts sagte Thierse, es sei „ein furchtbarer Irrweg“, dass in der Partei seither „auch alle inhaltlichen Konflikte und Niederlagen der SPD personalisiert“ wurden.
Das Video-Interview ist Teil einer Reihe zum 50. Jahrestag der Kanzlerwahl Willy Brandts, die der Tagesspiegel in Zusammenarbeit mit der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung veröffentlicht. Im ersten Interview der Serie äußerte sich Außenminister Heiko Maas.