Drei Städte innerhalb eines Tages: Taliban erobern auch Kundus im Norden Afghanistans
Nachdem die Taliban auch Kundus eingenommen haben, herrscht in der Stadt „totales Chaos“, berichten Augenzeugen. In der Nähe lag früher ein Bundeswehr-Lager.
Wenige Monate nach dem offiziellen Abzug der letzten Bundeswehrsoldaten aus Kundus ist die nordafghanische Provinzhauptstadt von den radikalislamischen Taliban eingenommen worden. Die Miliz gab am Sonntag die Eroberung der Stadt "nach heftigen Kämpfen" bekannt, Abgeordnete und Bewohner bestätigten die Einnahme.
Nur wenige Stunden später fiel mit Sar-i-Pul im Nordwesten die vierte Provinzhauptstadt binnen drei Tagen in die Hände der Islamisten und wenig später auch Talokan in der Provinz Tachar. Die Sicherheitskräfte von Talokan hätten sich aus der Stadt zurückgezogen, sagte Provinzrat Rohullah Raufi. Ein weiterer hochrangiger Beamter, der namentlich nicht genannt werden wollte, bestätigte, dass die Stadt gefallen sei.
Die Taliban haben seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai weite Teile des Landes erobert. Die Einnahme der strategisch wichtigen 370.000-Einwohner-Stadt Kundus ist ihr bislang größter Erfolg. Bereits 2015 und 2016 hatten die Islamisten die Stadt erobert, konnten sie jedoch nie lange halten.
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"Totales Chaos", berichtet Schekib Salarsai, ein Bewohner von Kundus, am Telefon. "Die Leute von der Regierung sind geflohen. Die Taliban haben Häftlinge aus dem Gefängnis entlassen. Wir haben weder Wasser noch Strom. Die Straßen sind gesperrt. Keiner kann die Verletzten in die Krankenhäuser bringen." In verschiedenen Teilen brennt die Stadt.
„Viele Menschen sind vertrieben, verletzt oder getötet worden“, schreibt ein ehemaliger afghanischer Übersetzer des Bundeswehrfeldlagers Kundus dem Tagesspiegel am Sonntagnachmittag. Aus Angst vor der Vergeltung der Taliban will der 35-Jährige anonym bleiben.
Bundeswehr war ein Jahrzehnt lang in Kundus stationiert
Die Bundeswehr war rund ein Jahrzehnt lang in Kundus stationiert. Von 2003 bis 2013 überwachten deutsche Soldaten vom Feldlager Kundus aus die Sicherheit im Norden des Landes. Noch 2020 waren etwa 100 Bundeswehr-Soldaten in Kundus stationiert. Ende Juni hat die Bundeswehr das Land am Hindukusch vollständig verlassen.
„Die Situation ist sehr gefährlich, seit zwei Tagen gab es schwere Kämpfe, auch wieder von gestern Nacht bis heute früh“, schreibt der ehemalige Bundeswehr-Übersetzer. „Jetzt hat es sich beruhigt. Keine Ahnung, was als Nächstes passieren wird.“ Zwei seiner Brüder seien noch in Kundus, er selbst konnte nach Kabul fliehen.
Märkte und Läden seien ausgebrannt, die Bedrohung durch die Taliban sei heftig, so der 35-Jährige. Erst heute habe er vom Fall einer vormals von Deutschland beschäftigten Ortskraft gehört, deren Haus die Taliban jetzt an sich gerissen hätten. Sie hätten den Nachbarn gesagt, sie wüssten, dass der ehemalige Bewohner mit den Ausländern zusammengearbeitet habe.
Afghanistan-Experte Conrad Schetter sagte dem Tagesspiegel: "Was wirklich erstaunlich ist, ist wie strategisch die Taliban vorgehen. Zunächst nehmen sie ohne Gegenwehr Distrikt nach Distrikt ein, dann isolieren sie die Städte und belagern diese und nun fällt in unterschiedlichen Regionen eine nach der anderen." Der pakistanische Geheimdienst sei vermutlich nicht ganz unbeteiligt, sagt er.
Die afghanischen Streitkräfte kämpfen seit dem Abzug der internationalen Truppen an zahlreichen Fronten gegen die Taliban. Die radikalislamische Miliz kontrolliert bereits weite Teile der ländlichen Regionen und verstärkt nun den Druck auf Provinzhauptstädte wie Herat nahe der Grenze zum Iran sowie Laschkar Gah und Kandahar im Süden.
Zuletzt eroberten die Islamisten Scheberghan in der nordafghanischen Provinz Dschausdschan und die im Südwesten gelegene Hauptstadt der Provinz Nimrus, Sarandsch.
Der Verlust von Kundus wiegt für Afghanistans Regierung schwer. Die Stadt ist ein wichtiges Handelszentrum nahe der Grenze zum Nachbarland Tadschikistan. Die Taliban hatten sie bereits 2015 und 2016 kurzzeitig eingenommen.
Beide Male wurden die Islamisten mit US-Luftangriffen zurückgedrängt. Auch aktuell fliegen die USA Luftschläge – noch. Die US-Truppen sind praktisch schon abgezogen. Die Flieger steigen außerhalb Afghanistans auf. "Das heißt: Es gibt nicht mehr genügend Mittel, um jede angegriffene Stadt des Landes zu verteidigen", schrieb die "New York Times".
In weniger als drei Wochen endet die US-Militärmission offiziell. Bisher gab es noch kein Zugeständnis der USA, die afghanischen Sicherheitskräfte auch danach gegen die Taliban zu unterstützen.
Kabul, die knapp 250 Kilometer von Kundus entfernte Hauptstadt Afghanistans, ist weiterhin unter Kontrolle der vom Westen gestützten Regierung. Er werde nun dort bleiben, schreibt der ehemalige Bundeswehr-Übersetzer dem Tagesspiegel. Vor knapp drei Wochen, zur Zeit des Opferfestes, sei er noch einmal in seiner Heimatstadt Kundus gewesen. Nicht um das Fest zu begehen. Sondern um seinen Haushalt aufzulösen. (mit dpa/AFP)
Cornelius Dieckmann