Afghanistan-Expertin Magdalena Kirchner im Interview: „Der Truppenabzug ist eine Katastrophe mit Ansage“
Magdalena Kirchner leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Afghanistan. Ein Interview über die Zukunft des Landes, Lehren und akute Probleme.
Die internationalen Truppen verlassen Afghanistan. Der Abzug der Bundeswehr ist bereits vollendet, die Amerikaner planen den vollständigen Abzug bis Ende August. Bereits jetzt verändert sich die Sicherheitslage im Land. Die Taliban streben gewaltsam zurück an die Macht - die afghanische Regierung scheint machtlos.
Dr. Magdalena Kirchner leitet seit Juni 2019 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Afghanistan. In Heidelberg und Aarhus hat sie Politikwissenschaften und Geschichte studiert mit Schwerpunkt Konfliktforschung und Außenpolitik im Kontext des internationalen Krisenmanagements. Sie erklärt, was nun auf das Land und den Rest der Welt zukommt.
Frau Kirchner, vor 20 Jahren wurden westliche Truppen nach Afghanistan geschickt. Aus moralischen Gründen, um Frieden zu sichern und um zu verhindern, dass Afghanistan Terroristen Unterschlupf bietet, hieß es. Was ist heute anders als damals?
Erstens haben sich die Prioritäten der NATO Mitgliedstaaten verschoben. Gerade nach 2014 und angesichts der neuen Rivalität mit China nimmt das Thema Internationaler Terrorismus nicht mehr den gleichen Stellenwert ein. Zweitens hat eine Neubewertung der Instrumente stattgefunden: Der Gedanke, dass Terrorismus durch eine nachhaltige gesellschaftliche Befriedung (Nation-building) und den Aufbau staatlicher Strukturen vor Ort bekämpft werden kann, erscheint mittlerweile vielen nicht mehr praktikabel, zu teuer und zu riskant. Drohnen, Kappen von Finanzströmen, verbesserte Geheimdienstkooperation scheinen die neuen ressourcensparenden Instrumente im Kampf gegen den Terrorismus zu sein.
Was hat man mit der Intervention erreicht?
Die internationale Intervention hat in Afghanistan, das ja durch die Kriege ab 1979 völlig zerstört war, dazu beigetragen, staatliche Institutionen von der Armee bis zum Gesundheitssystem wieder oder neu aufzubauen, afghanische Fachkräfte und Investoren aus dem Ausland zurückzugewinnen, Indikatoren wie Kindersterblichkeit oder Analphabetentum zu verbessern und ein politisches Klima zu schaffen, in dem sich zivilgesellschaftliche Akteure und vor allem Medien, doch relativ frei entfalten konnten. Alles natürlich in kleinen Schritten, und an vielen Stellen nicht ausreichend oder nachhaltig. Was man nicht erreicht hat, ist diese Erfolge in die Fläche zu tragen und auf Dauer zu stellen.
Wie ist ein Truppenabzug heute zu rechtfertigen?
Drei Motive tauchen in der Rechtfertigung des Abzugs immer wieder auf. Erstens, unsere Bilanz ist so verheerend, dass man das weder dem Steuerzahler noch den Soldaten vor Ort noch weiter zumuten kann. Zweitens, wir wissen, dass in Afghanistan ein Strategiewechsel notwendig ist, aber das Vertrauen in die afghanischen Partner und unser eigenes Interesse, hier noch weiter Ressourcen hereinzustecken, sind erschöpft. Und das hat mit dem dritten Punkt zu tun: Die Aufmerksamkeit der NATO Staaten ist weitergezogen, und andere Probleme erscheinen – nicht zu Unrecht – dringender. Für alle außer den USA ist der Truppenabzug des größten Verbündeten eigentlich ausreichende Rechtfertigung. Denn nicht nur politisch, sondern auch logistisch gesehen, ist ein Verbleiben ohne die USA undenkbar.
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Und was bedeutet er für Afghanistan?
Für die afghanische Regierung ist der Truppenabzug – auch wenn viele sich sicher waren, dass er letztlich nicht stattfinden würde – eine Katastrophe mit Ansage. Das reicht vom Ende der Sicherheit, in der politischen Auseinandersetzung mit den Taliban die Mehrheit der Weltgemeinschaft hinter sich zu haben, über die nun offenkundig werdenden Fähigkeitslücken der afghanischen Streitkräfte bis hin zur nicht unbegründeten Angst, dass mit dem Abzug auch die finanzielle Unterstützung der internationalen Geber schwinden könnte.
Erst am Dienstag erschütterte ein Autobombenanschlag die Hauptstadt Kabul. Die Taliban bekennen sich dazu. Überall im Land erobern sie Provinzen zurück, rücken von Ort zu Ort weiter vor. Würden Sie die internationale Intervention als gescheitert bezeichnen?
Mit Blick auf die Ziele, die über die unmittelbare Vergeltung für den 11. September – die Schwächung Al-Qaedas und der Festnahme oder Tötung Osama Bin-Ladens – hinausgingen, sind wir dahin gehend gescheitert, dass das Land nicht dauerhaft und in der Fläche stabilisiert oder befriedet werden konnte. Viel ist fragil geblieben und viele Erfolge nicht unumkehrbar.
Welche Lehren können auf dem Einsatz gezogen werden?
Meiner Meinung nach wäre die wichtigste Lehre, unseren Zielen auch die notwendigen Ressourcen und Strategien mit auf den Weg zu geben. Viel ist als Ziel ausgerufen worden, aber dann nur halbherzig verfolgt worden. Angefangen von der Demokratisierung bis hin zur Korruptionsbekämpfung.
Wie sollen die Probleme im Land jetzt gelöst werden, welche sind akut?
Akut ist natürlich die humanitäre Katastrophe, die sich abzeichnen könnte, wenn sich das Kriegsgeschehen noch weiter in die Städte verlagert. Viele Menschen sind innerhalb des Landes vertrieben worden und suchen dort nun Schutz und eine Möglichkeit ihr Überleben zu sichern, auch die Arbeitsbedingungen für humanitäre Organisationen werden schwieriger. Es klingt angesichts der Gewalt und verhärteten Fronten fast banal zu sagen, dass es nur eine politische Lösung geben kann, aber hierfür sollten sich auch Afghanistans Partner weiter stark machen.
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Beim Thema Abschiebung nach Afghanistan herrscht in der Bundesregierung weitgehend Einigkeit. Halten Sie das angesichts der aktuellen Umstände für vertretbar?
Ich kann nachvollziehen, dass die Bundesregierung sich auch mit Blick auf andere Staaten das Recht vorbehalten will, die afghanische Regierung nicht aus dem Rücknahmeabkommen zu entlassen, es ist ja auch gerade Wahlkampf. Abschiebungen in der aktuellen Situation aber wirklich durchzuführen, halte ich persönlich für nicht vertretbar.
Entsteht durch den Truppenabzug ein Machtvakuum? Welche Akteure rücken jetzt (wieder) in den Fokus?
Der Truppenabzug hat ein militärisches und politisches Machtvakuum geschaffen. Die Regierung und die Armee haben an Selbstvertrauen und Sicherheitsgarantien verloren. Neben den Taliban treten regionale Machthaber wieder stärker in den Fokus, deren Verhältnis zum Präsidenten in der Vergangenheit eher durchwachsen war, die aber in der Lage sind, beispielsweise lokale Milizen zu mobilisieren und die Taliban zurückzudrängen. Auch Afghanistans Nachbarstaaten, insbesondere China und Iran, übernehmen eine stärkere Rolle, wenn auch unter neuen Vorzeichen, denn sowohl Peking als auch Teheran haben deutlich gemacht, dass auch eine Talibanregierung für sie akzeptabel wäre, solange ihre eigenen Sicherheitsinteressen gewahrt bleiben.
Was bedeutet das Erstarken der Taliban für die Menschen vor Ort?
Der Zugang für Journalisten in umkämpfte oder eroberte Gebiete ist enorm schwer und lebensgefährlich. Gleichzeitig überlagern in vielen Orten auch lokale Konflikte eine mögliche nationale Strategie der Taliban, so dass es schwer ist, ein einheitliches Lagebild zu bekommen. In einigen Orten versuchen die Taliban, das öffentliche Leben rasch nach der Eroberung wieder zum Laufen zu bekommen, um sich als „neue Regierung“ präsentieren zu können. Aus anderen Orten gibt es Berichte zu schweren Menschenrechtsverletzungen, von Erschießungen bis zur Verschleppung, die insbesondere auf Seiten ihrer Gegner das blanke Entsetzen und Panik auslösen.
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Halten Sie den Truppenabzug für richtig zu diesem Zeitpunkt?
Ich halte den Truppenabzug für unabwendbar, insbesondere nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban, aber für sehr überhastet, schlecht vorbereitet und in Teilen unprofessionell ausgeführt. Fragen wie die Zukunft des Kabuler Flughafens, Sicherheitskonzepte der Botschaften, die weitere Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Streitkräfte, Fürsorgepflichten gegenüber afghanischen Mitarbeiter:innen, die nun arbeitslos und im schlimmsten Fall auch noch gefährdet sind, die konstruktive Einbindung der Nachbarstaaten und nicht zuletzt die Zukunft des Friedensprozesses sind weiterhin völlig offen – vieles davon hätte geklärt werden können und müssen, bevor man abzieht.
Welche Zukunftsszenarien sehen Sie für Afghanistan?
Kurz- und mittelfristig bin ich eher pessimistisch, insbesondere mit Blick auf steigende Zahlen ziviler Opfer, die Erosion des staatlichen Gewaltmonopols und der dramatisch schlechten Wirtschaft. Mittel- und langfristig hoffe ich natürlich darauf, dass es zu einer Einigung kommen kann, die zumindest ein Ende der Gewalt bringen kann.
Können Sie sich vorstellen, dass es erneut dazu kommt, dass Truppen ins Land geschickt werden, wenn die Lage weiter eskaliert? Wie in einem Teufelskreis?
Eine neue NATO-Mission mit Truppen im Land halte ich für sehr unwahrscheinlich, ebenso wenig wie eine robuste UN-Mission und schon gar nicht der EU. Ich könnte mir ein stärkeres militärisches Engagement der Nachbarstaaten vorstellen, allerdings vor allem mit dem Blick auf Grenzsicherheit und begrenzte Operationen unter dem weiten Begriff der Terrorismusbekämpfung.
Was erwarten Sie von einer neuen Bundesregierung, was von einem neuen Kanzler oder einer Kanzlerin in Bezug auf Afghanistan?
Ich würde mir eine noch proaktivere Afghanistanpolitik wünschen, die auch die Situation der afghanischen Schutzsuchenden in den Nachbarstaaten und der Türkei noch stärker in den Blick nimmt. Ich hoffe natürlich, dass trotz des möglicherweise aufgrund des Truppenabzugs sinkenden öffentlichen Interesses, die Bundesregierung an ihrem Ziel der zivilen und entwicklungspolitischen Unterstützung Afghanistans festhält und Organisationen wie unsere weiter im Land aktiv sein können.