Die Türkei und die EU: Steht das Flüchtlingsabkommen vor dem Aus?
Die Türkei setzt die EU beim Thema Visafreiheit stark unter Druck. Ein neuer Konflikt droht und der Flüchtlingsdeal gerät weiter in Gefahr. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
So deutlich wie nie zuvor hat Ankara damit gedroht, die Flüchtlingsvereinbarung mit der EU platzen zu lassen, wenn nicht bald die Visafreiheit für türkische Bürger kommt. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu stellte der EU ein Ultimatum: Cavusoglu sagte der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass Ankara von der Flüchtlingsvereinbarung Abstand nehmen müsse, wenn es nicht bis Oktober zur Visafreiheit für türkische Bürger komme. „Es kann Anfang oder Mitte Oktober sein, aber wir erwarten ein festes Datum“, sagte Cavusoglu. Damit droht ein neuer Konflikt zwischen Ankara und Berlin – schließlich war es vor allem Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gewesen, die sich im März für die Flüchtlingsvereinbarung stark gemacht hatte, mit deren Hilfe den Schleppern in der Ägäis das Handwerk gelegt werden soll.
Kommt die Drohung des türkischen Außenministers überraschend?
Nicht wirklich. Bereits im Mai hatte ein Berater des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, Burhan Kuzu, per Twitter gedroht, dass die Türkei demnächst Flüchtlinge Richtung Europa losschicken könne. Damit wollte er EU-Parlamentarier einschüchtern, von deren Zustimmung die Visafreiheit abhängt. Nach dem Putschversuch im vergangenen Monat legte Erdogan noch einmal nach. In einem ARD-Interview beklagte er sich, dass die EU ihr Versprechen bei der Visafreiheit nicht eingehalten habe. Der Hintergrund: Im März hatte die EU der Türkei eine Visafreiheit in Aussicht gestellt – aber immer unter der Voraussetzung, dass Ankara sämtliche 72 Kriterien dafür erfüllt. Weil die Türkei aber davon weit entfernt ist, hat das EU-Parlament die Beratungen über das Thema vorerst gestoppt.
Kann Erdogan damit rechnen, in der Visafrage seinen Willen zu bekommen?
Eigentlich nicht. Vor allem das Europaparlament hat strikt ausgeschlossen, dass es einer Visabefreiung zustimmen wird, wenn die daran geknüpften Bedingungen nicht erfüllt werden. Aus der Sicht der EU-Abgeordneten gilt die umstrittene türkische Anti-Terror-Gesetzgebung als der größte Stolperstein auf dem Weg zur Visafreiheit. Die Europaabgeordneten verlangen eine Abänderung der Gesetzgebung. So soll sichergestellt werden, dass nicht unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung missliebige Oppositionelle und Journalisten verfolgt werden. Bislang hat Erdogan eine Änderung des Anti-Terror-Paragrafen strikt abgelehnt. Ob es während des zunächst bis Oktober geltenden Ausnahmezustands in der Türkei zu einer Gesetzesänderung kommt, erscheint mehr denn je fraglich.
Dass sich an der Haltung der Abgeordneten im Europaparlament nichts geändert hat, machte am Montag der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, Elmar Brok, deutlich. Nach der Ansicht des CDU-Politikers ändern auch die jüngsten Drohungen des türkischen Außenministers nichts daran, dass Ankara die strittige Gesetzgebung ändern muss. „Es kann nicht sein, dass die Anti-Terror-Gesetzgebung als Vorwand dient, um Menschen ins Gefängnis zu stecken“, sagte er dem Tagesspiegel. „Das können wir nicht hinnehmen.“
Europaabgeordnete wie Brok sind nicht allein, wenn sie die Drohungen der türkischen Regierung zurückweisen. In Berlin erinnerte Außenamtssprecher Martin Schäfer am Montag die Regierung in Ankara daran, dass ohne eine Erfüllung der 72 Kriterien an eine Visafreiheit nicht zu denken sei. Ähnlich äußerte sich auch eine Sprecherin der EU-Kommission in Brüssel.
Was würde es bedeuten, wenn die Türkei das Flüchtlingsabkommen aufkündigt?
In der Vereinbarung hat die Türkei die Rolle eines „Türstehers“ übernommen: Erdogan soll sicherstellen, dass die Flüchtlinge gar nicht erst die Überfahrt über die Ägäis wagen. Für den Fall, dass irreguläre Migranten dennoch den Weg auf die griechischen Ägäisinseln suchen, vereinbarten die EU-Staaten mit Ankara folgende Lösung: Die Türkei muss irreguläre Migranten aus Syrien von Griechenland zurücknehmen – und in gleichem Maße verpflichten sich die EU-Staaten, vom Krieg verfolgte Syrer aus den Flüchtlingslagern aus der Türkei aufzunehmen.
Dass die Vereinbarung Wirkung gezeigt hat, belegt ein Blick auf die Zahlen: Bis Februar machten sich im Durchschnitt noch 2000 Flüchtlinge pro Tag auf den Weg von der Türkei nach Griechenland, von wo sie über die Balkanroute weiter Richtung Mitteleuropa gelangten. Anfang März wurde die Balkanroute geschlossen – für Flüchtlinge gab es an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien kein Weiterkommen mehr. Als dann die EU-Staaten kurze Zeit später auch noch den Deal mit Erdogan einfädelten, gingen die Flüchtlingszahlen in der Ägäis weiter zurück. Zuletzt kamen täglich wenige Dutzend Migranten pro Tag auf den griechischen Insel an.
Was passieren würde, falls Erdogan die Vereinbarung mit der EU aufkündigen sollte, lässt sich schwer vorhersagen. Selbst wenn die türkischen Behörden ihre Bemühungen im Kampf gegen das Schlepperunwesen einstellen sollten, dürften die Flüchtlingszahlen in der Ägäis wohl kaum wieder das Niveau der vergangenen Jahreswende erreichen. Denn inzwischen dürfte sich unter irregulären Migranten herumgesprochen haben, dass die Balkanroute geschlossen ist.
Würde ein Scheitern der Vereinbarung Merkels Flüchtlingspolitik untergraben?
Es war Merkel gewesen, die sich im vergangenen März besonders für den Pakt mit Erdogan eingesetzt hatte. Die Kanzlerin wollte mit der Vereinbarung eine nachhaltige Lösung erreichen, mit deren Hilfe auch die Zahl der Migranten in Griechenland zurückgeht. Sollte Erdogan den Flüchtlingspakt aufkündigen, könnte Griechenland der erste Staat sein, der davon betroffen wäre. In der Innenpolitik dürfte der Kanzlerin eine mögliche Aufkündigung der Vereinbarung so lange kein Kopfzerbrechen bereiten, wie die Zahl der hierzulande ankommenden Migranten so niedrig bleibt wie bisher. Im vergangenen Monat reisten pro Tag weniger als 100 Flüchtlinge von Österreich nach Deutschland ein. Zum Vergleich: Im vergangenen Herbst waren in Bayern in der Spitze täglich über 10 000 Flüchtlinge eingereist.
Warum hat das türkische Außenministerium den Gesandten der deutschen Botschaft zum Gespräch einbestellt?
Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei ist schon seit dem Bundestagsbeschluss zum Völkermord an den Armeniern angespannt. Nach dem Votum am 2. Juni bekam der deutsche Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, keine Termine mehr bei der türkischen Regierung, Anfragen wurden nicht beantwortet. Derzeit ist der Botschafter im Urlaub. Nun hat der Gesandte der Botschaft, Erdmanns Stellvertreter, doch einen Termin im Außenministerium bekommen, wenn auch nicht auf die gewünschte Art. Die Einbestellung eines ausländischen Diplomaten ist in der Sprache der Diplomatie ein deutliches Zeichen für die Verstimmung des Gastlandes. Die türkische Regierung ist verärgert darüber, dass bei der Demonstration von Unterstützern Erdogans in Köln am Sonntag Videobotschaften aus der Türkei nicht zugelassen wurden. Das Bundesverfassungsgericht hatte am Vorabend einen entsprechenden Antrag abgelehnt. Das machte es Erdogan unmöglich, während der Kundgebung zu seinen Anhängern zu sprechen. Ein Sprecher Erdogans nannte das Verbot „inakzeptabel“.
Die Bundesregierung gab sich am Montag trotz der neuen Spannungen im deutsch-türkischen Verhältnis demonstrativ gelassen. Die Einbestellung des Gesandten sei „zunächst einmal nichts Außergewöhnliches“, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern seien so eng und tief, dass auch die aktuellen Probleme überwunden werden können. „Jetzt haben wir eher eine Phase, in der es ein bisschen rumpelt.“
Was könnte das deutsch-türkische Verhältnis noch belasten?
Die Türkei wünscht sich von Deutschland Unterstützung in ihrem Vorgehen gegen Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht. Entsprechende Forderungen richtete der türkische Generalkonsul in Stuttgart an die Staatskanzlei Baden-Württemberg. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wies das entschieden zurück. Auch an den Berliner Senat hatten sich türkische Diplomaten gewandt, um über Aktivitäten der Gülen-Bewegung in Deutschland zu reden, der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) traf den Berliner Generalkonsul der Türkei zum Gespräch. Der türkische Außenminister verlangte in der vergangenen Woche von Deutschland die Auslieferung von Gülen-Anhängern. „Deutschland muss die Richter und Staatsanwälte dieses Parallelstaates ausliefern“, sagte Cavusoglu nach Angaben des Senders CNN-Türk. Merkel betonte umgehend, alle Auslieferungsanträge aus der Türkei würden nach rechtsstaatlichen Prinzipien geprüft. Bisher hat die Bundesregierung allerdings keine offiziellen Auslieferungsanträge erhalten. „Wir haben bis jetzt keine solchen Ersuchen aus der Türkei“, hieß es am Montagnachmittag im Bundesjustizministerium.