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Selbst auf Schals war Erdogans Gesicht bei der großen Demonstration am Sonntag in Köln zu sehen.
© Paul Zinken/dpa

Zerrüttetes Verhältnis: Die Türkei braucht den Flüchtlingsdeal mit der EU

Wenn Recep Tayyip Erdogan nun tatsächlich den Flüchtlingsdeal mit der EU aufkündigt, weil Brüssel den visafreien Reiseverkehr für Türken verweigert, handelt er gegen die eigenen Interessen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Thomas Seibert

Wieder einmal droht die Türkei damit, das Tor zu öffnen und hunderttausende Flüchtlinge nach Europa zu schicken. Die Warnung, das Flüchtlingsabkommen mit der EU aufzukündigen, falls Brüssel den Türken nicht bis Oktober volle Reisefreiheit gewährt, sorgt in Europa für neue Verunsicherung. Steht eine neue Flüchtlingswelle wie im vergangenen Jahr bevor? Oder ist das alles nur ein Bluff von Präsident Erdogan? Die Antwort liegt im mittlerweile stark zerrütteten türkisch-europäischen Verhältnis.

Nicht nur die EU profitiert davon, dass die Türkei seit März ihre Ägäis-Küste stärker kontrolliert und den Schlepperbanden zeigt, dass es sich nicht mehr lohnt, verzweifelte Menschen in Schlauchbooten nach Griechenland zu schicken. Auch für die Türkei selbst bringt das Abkommen Vorteile. Es bewahrt das mit drei Millionen Flüchtlingen bereits stark unter Druck stehende Land davor, als Durchgangsstation Richtung Europa immer neue Menschen aus Asien, Afrika und Nahost anzuziehen. Die türkische Grenze zu Syrien wird seit Monaten strenger überwacht, tausende Flüchtlinge sitzen in Syrien fest.

Wenn die Regierung in Ankara nun tatsächlich den Deal mit der EU aufkündigt, weil Brüssel den visafreien Reiseverkehr für Türken verweigert, handelt sie gegen die eigenen Interessen. Zudem wissen auch die Erdogan-treuen Regierungspolitiker und Beamten in Ankara, dass die Europäer angesichts der migrantenfeindlichen Stimmung in den EU-Ländern in einem ersten Schritt allerhöchstens die Visaregeln für ausgewählte Gruppen wie Studenten oder Unternehmer aus der Türkei lockern werden. Erdogans Maximalforderung nach völliger Visafreiheit bis Oktober hat angesichts der nicht erfüllten Kriterien ohnehin keine Chance auf Verwirklichung. Von einer Liberalisierung der Terrorgesetze, wie sie von der EU gefordert wird, ist ein Land im Ausnahmezustand weiter entfernt denn je.

Aneinander vorbeireden

In dem Streit geht es der Erdogan-Regierung aber sowieso nur in zweiter Linie um die sofortige Reisefreiheit für ihre Bürger. Ihr Hauptanliegen ist es, die EU daran zu erinnern, dass die Türkei nach wie vor eine wichtige Rolle für den Kontinent spielt. Auch wenn viele Europäer in der Vergeltungs- und Festnahmewelle, die seit dem Putschversuch vom 15. Juli rollt, einen Beweis für die EU-Untauglichkeit der Türkei sehen, ändert das nichts an der Bedeutung von Erdogans Reich für Europa. In diesem Hinweis liegt das politische Ziel der jüngsten Drohung in Sachen Flüchtlingspolitik.

Aus türkischer Sicht ist das ein legitimes Anliegen. Erdogan und seine Minister beobachten mit wachsender Verärgerung, dass ihre westlichen Partner die Festnahmewelle seit dem 15. Juli heftiger kritisieren als den Umsturzversuch selbst. Kein einziger EU-Spitzenpolitiker habe die Türkei seit dem gescheiterten Staatsstreich besucht, um Solidarität mit der gewählten Regierung zu demonstrieren, klagte Erdogan vor einigen Tagen. Dass er die Europäer mit dem Hinweis auf mögliche neue Flüchtlingsmassen ein wenig aufschrecken will, ist aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet durchaus nachvollziehbar.

Die europäische Reaktion auf den Putsch kommt allerdings nicht von ungefähr. Schon vor dem Umsturzversuch behandelte Erdogan wichtige demokratische Errungenschaften eher als lästigen Ballast denn als unabdingbare Voraussetzungen für einen EU-kompatiblen Staat. Kein EU-Politiker möchte Erdogan mit einer Solidaritätsvisite in Ankara aufwerten. Auf der anderen Seite sieht sich der türkische Präsident nicht erst seit dem 15. Juli als Opfer europäischer Heuchelei, anti-türkischer Ressentiments und Islamophobie.

In diesem politischen Graben zwischen Ankara und Brüssel liegt das eigentliche Risiko für die Zukunft der Beziehungen. Die beiden Seiten haben sich derzeit nicht viel zu sagen, und wenn sie miteinander sprechen, reden sie aneinander vorbei – der neue Streit um die Flüchtlingspolitik wird nicht die letzte türkisch- europäische Reiberei bleiben.

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