Appell an Ampel-Parteien: Spahn fordert Schutzmaßnahmen auch bei Ende der Corona-Notlage
Der Minister hält auch bei einem Auslaufen der Corona-Notlage Auflagen für nötig. Spahn sieht in einem Brief an die Ampel-Spitzen dafür zwei Möglichkeiten.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hält es auch bei einem möglichen Auslaufen des bundesweiten Corona-Ausnahmezustands Ende November für „unbedingt erforderlich“, dass bestimmte Corona-Schutzmaßnahmen regional und auf Landesebene weiter angeordnet werden können. Das geht aus einem auf den 15. Oktober datierten Brief des Ministers an die Partei- und Fraktionschefs von SPD, Grünen und FDP hervor. „Bild“ hatte zuvor über das Schreiben berichtet. Es liegt auch der Deutschen Presse-Agentur vor.
In dem mit Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) abgesprochenen Brief an die Spitzen der voraussichtlichen Ampel-Koalition weist Spahn auf zwei Möglichkeiten hin, wie dies rechtlich umgesetzt werden könnte.
Entweder könnte Paragraf 28a des Infektionsschutzgesetzes, in dem die bekannten Corona-Maßnahmen aufgelistet werden, so geändert werden, dass die Maßnahmen nicht mehr an das Bestehen einer bundesweiten „epidemischen Lage nationaler Tragweite“ geknüpft werden. Damit hätten die Landesregierungen freie Hand, ihre Corona-Verordnungen wie bisher regelmäßig fortzuschreiben.
Alternativ könnten die Bundesländer aber auch über ihre Landesparlamente die weitere Anwendbarkeit dieses Paragrafen und damit der Maßnahmen feststellen lassen – das wäre dann eine Art „epidemische Lage“ auf Landesebene, damit Masken, 3G oder andere Maßnahmen weiter angeordnet werden können. Diese Möglichkeit sieht das Infektionsschutzgesetz ausdrücklich vor.
„Als Bundesminister für Gesundheit rege ich im Sinne der weiteren Pandemiebewältigung eine Verständigung auf das weitere Vorgehen in dieser Angelegenheit zwischen den Parteien an, die aktuell eine Regierungskoalition verhandeln“, heißt es in dem Schreiben.
Spahn selbst hatte sich dafür ausgesprochen, den Corona-Ausnahmezustand auf Bundesebene über den 25. November hinaus nicht noch einmal zu verlängern. Dieser Vorstoß stößt weiter auf ein geteiltes Echo. Während Kommunen die Forderung guthießen, reagierte der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste mit Protest. Aus den Bundesländern kommen verhaltene Reaktionen und auch mahnende Stimmen.
Die sogenannte „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ stellt die rechtliche Grundlage für Verordnungen und zentrale Corona-Maßnahmen in Deutschland dar. Sie wurde vom Bundestag im März 2020 festgestellt und später mehrfach vom Parlament verlängert.
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Spahn hatte sich am vergangenen Montag bei Beratungen mit den Gesundheitsministern der Länder dafür ausgesprochen, dass es nicht zu einer erneuten Verlängerung kommt. Damit würde die bundesweite Corona-Notlage am 25. November auslaufen. Maßnahmen wie Abstands- und Hygieneregeln sollen aber erhalten bleiben.
Direkten Folgen des Endes der Corona-Notlage
Zustimmung von Kommunen, Kritik aus den Ländern
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund unterstützt den Vorstoß. „Den Ausnahmezustand nach bald zwei Jahren Pandemie weiter fortzuschreiben, halte ich für falsch“, sagte Verbandshauptgeschäftsführer Gerd Landsberg der „Rheinischen Post“ (Mittwoch). „Wie lange wollen wir das noch fortsetzen bei einer Impfquote von rund 80 Prozent?“, fragte er. Das bedeute ja nicht, dass Corona komplett vorbei sei. Aber es wäre „ein wichtiges Signal an die Menschen, die Gesellschaft und die Wirtschaft“. Laut Impfdashboard des Gesundheitsministeriums haben 68 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Dosis erhalten. Der Anteil der vollständig Geimpften beläuft sich auf rund 66 Prozent.
Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (BPA) widersprach. „Wir raten dringend davon ab“, sagte BPA-Präsident Bernd Meurer dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). In manchen Landkreisen lägen die Inzidenzen bei den über 80-Jährigen wieder zwischen 100 und 250. Meurer mahnte: „Angesichts dieser Situation fordern wir zum Schutz dieser besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppe eine Verlängerung der entsprechenden Regelungen - alles andere halten wir für unverantwortlich.“
Der Vorsitzende des Bundesverbandes der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen (BKSB), Alexander Schraml, sprach sich für eine bundesweit einheitliche Rechtsgrundlage aus, wonach Heimbewohnerinnen und -bewohner „nur bei Impfschutz aufgenommen und Besuchende nur bei Impfschutz zugelassen werden dürfen“.
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Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil warnte vor einem vorschnellen Aus aller Corona-Maßnahmen. „Was keinesfalls passieren darf mit Blick auf den Herbst und Winter, ist ein ersatzloses Streichen der Schutzregeln“, sagte der SPD-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. „Wir haben immer noch schwierige Monate vor uns.“ Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) sagte dem RND, Spahn habe „zurecht darauf hingewiesen, dass ein formales Ende der epidemischen Lage nicht mit einem Ende der Pandemie gleichzusetzen ist“. Sie forderte angesichts „stark steigender Infektionszahlen“ in Thüringen die Fortführung von Maßnahmen, „bestenfalls bundeseinheitlich“.
Auch der rheinland-pfälzische Gesundheitsminister Clemens Hoch (SPD) kritisierte den Vorstoß: „Dass es nach Beendigung der epidemischen Lage nationaler Tragweite in Deutschland einen Flickenteppich im Umgang mit der Pandemie gibt, das will niemand.“ Alle Maßnahmen ab dem 25. November aufzuheben, werde aber nicht realistisch sein, das wisse auch Spahn. Er wünsche sich vom Bund eine „geordnete, einheitliche Übergangsregelung“. Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums in Nordrhein-Westfalen sagte dem RND, dass „in jedem Fall eine bundesweit einheitliche Lösung“ nötig sei, um den Ländern weiter gezielte Maßnahmen zu ermöglichen.
Infektiologe mahnt vor Beendigung
Der Düsseldorfer Infektiologe Tom Lüdde hat in der Debatte um eine Beendigung der Corona-Notlage in Deutschland zur Vorsicht gemahnt. Es gebe noch Millionen von Ungeimpften, darunter drei bis vier Millionen Menschen mit Risikofaktoren für einen schweren Verlauf, sagte der Direktor der Klinik für Infektiologie an der Uniklinik Düsseldorf der „Kölnischen Rundschau“. Durch saisonale Effekte in Herbst und Winter begünstigt, könne eine rasch ablaufende Covid-19-Welle zu zahlreichen Toten führen und die Krankenhäuser erneut an ihre Grenzen bringen.
Experten warnen allerdings, dass die Bevölkerung das Auslaufen der bundesweiten Corona-Notlage als „Freedom Day“ verstehen könnte. Der Begriff stammt aus England, wo am 19. Juli die Corona-Maßnahmen weitgehend aufgehoben worden waren. Für einen „Freedom Day“ wäre es jedenfalls zu früh, betonte der Mediziner Lüdde. Er sagte, es sei zu früh, Covid-19 „freien Lauf“ zu lassen. Durch die Delta-Variante sei das Risiko für Ungeimpfte noch gestiegen. Die wachsende Zahl von Impfdurchbrüchen sei nicht überraschend. Schwere Verläufe gebe es ganz überwiegend bei schwer vorerkrankten, hochaltrigen oder immungeschwächten Menschen. Impfungen verhinderten mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere Verläufe.
Mehrheit der Bevölkerung für Ende
Die Mehrheit der Bevölkerung ist einer Umfrage zufolge dafür, den seit eineinhalb Jahren geltenden bundesweiten Corona-Ausnahmezustand auslaufen zu lassen - aber gleichzeitig Schutzmaßnahmen weiter aufrechtzuerhalten. 57 Prozent würden es laut einer am Mittwoch veröffentlichten repräsentativen Yougov-Befragung befürworten, wenn die sogenannte epidemische Lage nationaler Tragweite ab Ende November unter fortbestehender Einhaltung von 3G-, Hygiene- und Abstandsregeln nicht mehr verlängert würde.
Die Zahlen bei Neuinfektionen und Klinikeinweisungen waren zuletzt wieder etwas gestiegen. Die Krankenhäuser rechnen aber für den Herbst und Winter nicht mehr mit so hohen Covid-19-Patientenzahlen wie im Vorjahreszeitraum. (Tsp, dpa)