Juden in Berlin: Sorge vor neuem Antisemitismus wegen Flüchtlingen
Viele Flüchtlinge kommen aus Ländern mit juden- und israelfeindlicher Kultur, warnen jüdische Verbände. Wie schätzen Berliner Juden die Situation ein?
Lala Süsskind ist wütend. „Wir sind stinknormale Bürger dieses Landes, und als solche möchten wir gefälligst auch behandelt werden“, sagt die ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlin. Sie fühlt sich angesichts der vielen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, die derzeit nach Deutschland kommen, von der Politik alleine gelassen und nicht ernst genommen. Diese kämen „aus einer Kultur, in der man Juden und Israel hasst“. Damit müsse die deutsche Gesellschaft umgehen.
Süsskind ist Mitbegründerin des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA). Der Verein hat am Mittwoch in Berlin die neue Studie „Der antisemitische Djihad als ‚Holy Worldwar‘“ vorgestellt.
Verfasst hat sie der Politikberater Berndt Georg Thamm, der sich seit Jahrzehnten unter anderem mit Terrorismus und organisierter Kriminalität beschäftigt. Die Studie soll eine Lücke füllen und den judenfeindlichen Charakter islamistischer Anschläge in den Fokus nehmen.
"Derzeit keine konkreten Hinweise auf Anschläge"
Jüdische Opfer würden meist als Kollateralschäden wahrgenommen, sagt Thamm. Das habe man etwa beim islamistischen Anschlag auf die französische Satirezeitung Charlie Hebdo Anfang des Jahres sehen können.
Dass der Islamist Amedy Coulibaly zwei Tage später vier Juden in einem französischen Supermarkt ermordete, sei auf deutlich weniger Empörung gestoßen. Coulibalys Tat stand in Verbindung mit dem Anschlag auf Charlie Hebdo. Die Zeitschrift hatte zuvor wiederholt Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlicht.
„Zur Zeit gibt es keine konkreten Hinweise auf Anschläge in Deutschland und Berlin“, sagt Thamm. Dennoch müsse man wachsam sein, denn: "Auch bei Charlie Hebdo gab es im Vorfeld keine Anzeichen für ein Attentat.“ Zwar sei noch nicht „Alarmstufe Rot“, „aber ein mildes Dauer-Orange“. Kritiker der europäischen Flüchtlingspolitik hatten wiederholt vor islamistischen Terroristen gewarnt, die mit den Flüchtlingsströmen nach Deutschland kommen könnten.
„Wie kann man über ein Problem reden, dass noch gar nicht im Land ist?“
Unter Berliner Juden herrschen gemischte Gefühle angesichts der zahlreichen Neuankömmlinge aus Nahost. „Ich habe in der Vergangenheit meine Davidstern-Kette getragen wenn ich Kleiderspenden abgegeben habe", sagt Anna Goldschmidt. Die 26-Jährige ist Studentin am jüdisch-amerikanischen Touro College Berlin. Es seien eher linke Unterstützergruppen gewesen, die negativ auf das jüdische Symbol reagiert hätten. „Allerdings habe ich auf Demos von und für Flüchtlinge auch schon antisemitische und antiisraelische Parolen gehört und mich so unwohl gefühlt, dass ich die Veranstaltungen verlassen musste." Die Angst von Lala Süsskind kann sie nachvollziehen.
„Über das Problem des Antisemitismus bei Flüchtlingen kann man erst dann reden, wenn sie längere Zeit hier sind“, meint der 24-jährige Michael Groys. Er engagiert sich in der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt der SPD. Bei den meisten sei der Aufenthaltsstatus noch gar nicht geklärt, viele würden wieder abgeschoben. „Wie kann man über ein Problem reden, dass noch gar nicht im Land ist?“ Den Kampf gegen Judenhass sieht er als Aufgabe aller Deutschen, nicht nur als Anliegen von Juden. „Wir sind als allererstes Deutsche, dann Juden.“ Ihn erschrecke viel eher, wenn in Heidenau sogenannte besorgte Bürger „Volksverräter Zionisten“ riefen. Dennoch: Die deutschen Sicherheitsapparate müssten alarmiert bleiben. Dabei könnten diese von der Erfahrung ihrer israelischen Kollegen profitieren.
"Wir haben uns integriert – das wünsche ich mir auch von den Flüchtlingen"
Für Sandra Kreisler ist Israel-Hass gleichbedeutend mit Antisemitismus, und der werde vielen Menschen im Nahen Osten anerzogen. Das wiederum falle in Deutschland auf fruchtbaren Boden. "Da treffen sich zwei – wie man auch anhand der unglaublich einseitigen, Täter-Opfer-Umkehr betreibenden Medienberichterstattung in Bezug auf Israel sieht", sagt die 53-jährige Sängerin. Sie sei regelmäßig schockiert, wie über den Nahost-Konflikt berichtet würde. Sie glaubt, das Israelbild bei Flüchtlingen sei der Angelpunkt. Dieses sei durch die negative Berichterstattung in den jeweiligen Herkunftsländern geprägt. "Außerdem halte ich persönlich es für wichtig, dass man ein Papier erstellt, in dem die wichtigsten Grundwerte von den Flüchtlingen unterschrieben werden müssen", sagt sie. Darin solle das Bekenntnis zur Gleichberechtigung aller Bürger festgeschrieben sein. "Das wird de facto nicht viel bringen, aber doch zumindest eine Beschäftigung mit dem Thema."
Der 26-jährige Mike Delberg, der das Jüdische Studentenzentrum in Berlin leitet, verweist auf die Flüchtlingsgeschichte seiner eigenen Familie. Als seine Großeltern und Eltern in den siebziger Jahren auf der Flucht vor dem sowjetischen Regime, über Zwischenstationen in Österreich, Italien oder Israel, letztendlich in Deutschland gelandet seien, hätten sie – ebenso wie die syrischen Flüchtlingsfamilien heute – nur eine Hoffnung gehabt: Heraus aus dem Chaos der Unsicherheit und Verfolgung und hinein in ein Land, dass ihnen und ihren Kindern Schutz und Frieden bringt. "Wir haben uns integriert und leben unsere Kultur im Rahmen der Gesetze und gesellschaftlichen Richtlinien unserer neuen Heimat aus. Und wir leben gerne hier! Das wünsche ich mir auch für die syrischen Flüchtlinge von heute."
"Ich halte die Sorgen von Frau Süsskind für berechtigt"
Sonja Harbeck sagt: "Ich bin jetzt nicht panisch. Aber Befürchtungen habe ich schon. Und ja: Wir werden damit allein gelassen." Sie ist 43 und hat erst vor einigen Jahren von ihren jüdischen Wurzeln erfahren. Daher sei sie zwar nicht jüdisch aufgewachsen, mittlerweile sei es aber Teil ihrer Identität. Ihrer Meinung nach müssten Programme gestartet werden, um den Menschen ihren Hass zu nehmen. "Dazu müssten die Politiker die Ängste von Juden aber erst einmal ernstnehmen", sagt sie. Neben einigen Flüchtlingen seien es vor allem auch in Deutschland aufgewachsene oder geborene Muslime, die ihr Sorgen bereiteten. Sie denkt etwa an Anti-Israel-Demonstrationen, bei denen zum Teil offen antisemitische Parolen skandiert werden.
"Ich halte Sorgen wie die von Frau Süsskind natürlich für berechtigt", sagt Sergey Lagodinsky von der Jüdischen Gemeinde Berlin. "Das sind Menschen, die aus Ländern kommen, die eine ganz andere, teils traumatisierte Einstellung zu den Themen Israel und Juden haben." Dies komme vor allem durch eine feindselige Berichterstattung und Politik gegenüber Israel in den entsprechenden Ländern. Er bemängelt, dass allgemein zu viel über die Ängste der deutschen Mehrheitsbevölkerung gesprochen werde und zu wenig darüber, wie sich andere Minderheiten fühlten. Deutsche Politiker seien mit der Lage überfordert. "Kein Wunder, dass in solch einer Situation die Bevölkerungsgruppen, die potentiell verwundbar sind, besonders besorgt sind", sagt der 39-Jährige.