Gedanken zur Debatte um die Moderatorin Nemi El-Hassan: Solidarität mit Palästinensern wird zu pauschal sanktioniert
Teilweise herrscht ein falsches Verständnis von Antisemitismus vor. Plädoyer für mehr Differenzierung und mehr Empathie. Ein Gastbeitrag.
Meron Mendel ist Professor für transnationale Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main
Die Entscheidung, ob die Ärztin und Journalistin Nemi El-Hassan als Moderatorin für die Sendung „Quarks“ engagiert wird, ist beim WDR noch nicht gefallen. Vorwürfe gegen sie reichen von ihrer Teilnahme an der antisemitischen Al-Quds Demonstration 2014 bis zu Pro-Palästina-Beiträgen und Likes in den sozialen Medien vor allem im Zuge des letzten Gaza-Konflikts.
Dabei zeigt die Debatte, wie allzu schnell jede Form der Palästina-Solidarität als antisemitisch verstanden wird. Der Kampf gegen Judenhass darf nicht instrumentalisiert werden, um palästinensische Stimmen zu delegitimieren.
Im Jahr 2012 wurde auf der Berliner Biennale die Kunstinstallation „key of return“ ausgestellt. Ein neun Meter langer, tonnenschwerer Metallschlüssel, den ein palästinensisches Kollektiv aus dem Flüchtlingslager Aida bei Bethlehem erstellt hat. Der Schlüssel symbolisiert die Forderung der Palästinenser, in ihre alten Häuser, die im heutigen Israel stehen, zurückzukehren. Wäre eine solche Kunstinstallation auch heutzutage in Deutschland möglich? Ich bin skeptisch.
Erbitterte Debatten über Grenzen zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus
Welche Positionen zum Nahostkonflikt als legitim gelten und wo die Grenzen zwischen Kritik am Handeln des israelischen Staates und Antisemitismus verlaufen – über diese Fragen wird in der Öffentlichkeit nicht erst seit dem Fall Nemi El-Hassan erbittert gestritten. Dass Judenhass keinen Platz in Deutschland hat, darüber herrscht in Politik und Gesellschaft Einigkeit.
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In den vergangenen Jahren ist dabei das Problem des israelbezogenen Antisemitismus glücklicherweise immer stärker auf die Agenda gekommen. Wir erleben tagtäglich in unserer pädagogischen Arbeit, wie sich Judenhass im Land der Täter der Shoah vielfach über Umwege äußert, indem zum Beispiel antisemitische Ressentiments auf Israel projiziert werden und Antisemitismus als angeblich sachliche „Israelkritik“ getarnt wird.
Diese Auffassung wirkt sich teils dramatisch auf das Handeln von Institutionen aus: Drei junge Männer mit palästinensischem Background verüben einen Brandanschlag auf ein jüdisches Gotteshaus in Wuppertal – und das Düsseldorfer Oberlandesgericht wertet die Tat nicht etwa als antisemitisch, sondern adelt sie fast schon als politisch motivierte Tat, als Kritik an Israel.
Selbstverständlich zählen antiisraelische Demonstrationen vor Synagogen wie bei der jüngsten Eskalation in Nahost, Al-Quds Märsche mit Nazisymbolen oder Angriffe auf Kippa-Träger in Berlin nicht zu legitimen Solidaritätsbekundungen mit den Palästinensern. Vor diesem Hintergrund war die Entschuldigung von El-Hassan für ihre Teilnahme an der Al-Quds Demonstration 2014 längst überfällig.
Die Unterstützung des Rückkehrrechts der Palästinenser ist kein Antisemitismus
In der aktuellen Debatte bin ich nun darüber gestolpert, dass auch die Forderung des palästinensischen Rückkehrrechts als Vorwurf in Stellung gebracht wird. So erklärt etwa der Psychologe Ahmed Mansour in der "Welt am Sonntag", das Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge bedeute nichts weniger als das Ende des Staates Israel. Warum und wie genau, wird im Artikel nicht weiter ausbuchstabiert. Vermutlich hält sich Mansour an folgende Rechnung: Würde Israel tatsächlich alle Menschen mit Geflüchteten-Status aufnehmen müssen, wäre er kein jüdischer Staat mehr. Denn mehr als siebzig Jahre nach der Staatsgründung Israels – oder Nakba („Katastrophe“), wie Palästinenser die Vertreibung von 700 000 Palästinensern nennen – hat sich die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge weltweit auf etwa 5,4 Millionen vervielfacht. Der Geflüchteten-Status vererbt sich bei Palästinensern – weltweit einmalig – auf die Folgegenerationen.
Ist diese Forderung der Palästinenser also antisemitisch? Versuchen wir den Nahostkonflikt nüchtern zu betrachten, könnte man sagen: In jedem verhärteten Konflikt ist es alles andere als abwegig, dass die beteiligten Seiten zunächst mit Maximalforderungen operieren, bevor es zu Verhandlungen kommt. In der Forderung nach Rückkehr steckt auch die Aussicht auf symbolische Anerkennung und Kompensation, nicht unbedingt die Einwanderung nach Israel. Dass die Palästinenser die Forderung stellen, bedeutet auch nicht, dass diese jemals vollständig umgesetzt würde.
In der maximalen Abwehr der Rückkehrforderung wiederum liest sich die Unterstellung, dass die Forderung der Palästinenser maßgeblich darauf abziele, Juden zu schaden. Als hätten die Interessen der Menschen auf Rückkehr und Heimat keinen Wert an sich – das ist nicht nur ziemlich boshaft, sondern auch überraschend unüblich in einer Zeit, in der so beharrlich auf die Relevanz der jeweiligen Sprecher*innenposition verwiesen und Heimatministerien unterhalten werden.
Israelis reagieren auf die Rückkehrforderung übrigens in der Regel unerschrocken. Es gibt gute Gründe für Palästinenser, die Forderung zu stellen und mindestens genauso gute Gründe für Israelis, sie abzulehnen. Vertreibung ist eine Tragödie. Aber in den seltensten Fällen ist sie rückgängig zu machen. So leben in Israel die Nachkommen von etwa 850 000 Juden, die in den 1950er Jahren aus arabischen Ländern vertrieben wurden – sie beharren nicht auf ein Rückkehrrecht.
Verbundenheit mit dem Schicksal der Palästinenser ist per se legitim
Von den vertriebenen Palästinensern leben 1,3 Millionen im Gazastreifen und etwa 800 000 in den von Israel besetzten Gebieten des Westjordanlandes sowie im annektierten Ostjerusalem. Hier in Deutschland leben inzwischen viele Nachkommen der palästinensischen Flüchtlinge – auch Nemi El-Hassan. Viele Palästinenser weltweit sind mit dem Land ihrer Vorfahren verbunden. Die Legitimität dieser Verbundenheit abzusprechen – sie gar als Judenhass abzustempeln – zeugt nicht nur von Empathielosigkeit, sondern auch von einem falschen Antisemitismusverständnis.
Es ist geboten, Palästinasolidarität zu kritisieren, wenn sie antisemitisch artikuliert wird. Es ist aber auch notwendig, ihr nicht grundsätzlich die Legitimität abzusprechen. Mehr noch: Es liegt auch im israelischen Interesse, den Anliegen der Palästinenser mehr Gehör zu verschaffen, wie auch der verstorbene israelische Psychologe Dan Bar-On betonte: Die Anerkennung des palästinensischen Leidens schaffe die Voraussetzung für Dialog und nachhaltigen Frieden.
Mehr Empathie wäre ein Schlüssel für eine produktivere Debatte
Schon aus demokratietheoretischer Perspektive muss Solidarität mit den Palästinensern als Form der Meinungsäußerung in Deutschland möglich sein. Eine pauschale Sanktionierung von Palästina-Solidarität, wie es aktuell in Teilen der konservativen Presse geschieht, spielt Islamisten in die Hände, deren Geschäftsmodell auf der Stärkung der muslimischen Opferrolle basiert.
Wenn Palästina-Solidarität nur in Schmuddelecken stattfinden kann, wenn allein die Benennung der Besatzung als Affront gilt, wenn Aufrufe wie „Free Palestine“ als Judenfeindschaft delegitimiert werden und wenn dieser Kritik nicht argumentativ, sondern institutionell begegnet wird – in all diesen Fällen hat antisemitische Agitation ein leichtes Spiel. Denn hier finden Judenfeinde dann einen vermeintlichen Beleg für das verbreitete Phantasma einer jüdischen Allmacht in Politik und Medien.
Die Parteistrategen der AfD haben längst erkannt, wie der „Kampf gegen Antisemitismus“ vor allem als willkommener Anlass genutzt werden kann, um gegen Muslime und Linke zu hetzen. Hier dockt auch Springers Bild-Zeitung geschmeidig an, die in jüngster Zeit sowohl die Grünen-Politikerin Claudia Roth als auch die Philosophin Carolin Emcke über Antisemitismus-Anschuldigungen zu diskreditieren suchte, die so luftig waren, dass sich der Eindruck aufdrängen musste, hier gelte es weniger den Antisemitismus denn die progressiven Positionen zweier meinungsstarker Frauen aus dem Diskurs auszuschließen.
Mit Blick auf alle Debatten zum Nahostkonflikt wäre meine Minimalforderung, zwischen tatsächlichem Antisemitismus und legitimen palästinensischen Forderungen zu differenzieren. Die Schlüssel zu einer offenen Auseinandersetzung und produktiven Debatte wären sicherlich mehr Fehlertoleranz, mehr Empathie.
Ich erinnere mich dieser Tage an den Sozialkundeunterricht in der 9. Klasse, in meinem Heimatort in der Negev-Wüste. Der Lehrer wollte das Rückkehrrecht der Palästinenser mit uns besprechen – und kam tatsächlich mit einem Schlüssel in den Unterricht. Er sagte: „Ihr müsst den Palästinenser nicht Recht geben, aber ihr sollt sie verstehen.“ Ein paar dieser Schlüsselmomente wünschte ich auch der aktuellen Debatte hierzulande.
Meron Mendel