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Zusammenstoß mit israelischen Soldaten im Gaza-Streifen. Palästinenserin an der Grenze außerhalb von Gaza City am 25. August 2021,
© imago images/ZUMA Wire/Mahmoud Kattab

Israelis und Palästinenser: Die zwangsgeräumte Heimat

Zwischen Druck und Gegendruck: Muriel Asseburg schreibt die Geschichte der Palästinenser bis in die Gegenwart fort.

Über kaum einen politischen Konflikt wird seit Jahrzehnten mehr berichtet als über den Nahostkonflikt. Aufgrund der deutschen Vergangenheit ist das Verhältnis zu Israel ein besonderes - was die außergewöhnliche Aufmerksamkeit erklärt, aber auch die starke Polarisierung in Medien und Politik. Über Israel, seine Geschichte und seine Gesellschaft weiß man in Deutschland eine Menge – wenn man will. Das sieht bei den Palästinensern, auf die meist nur bei kriegerischen Auseinandersetzungen ein Schlaglicht fällt, ganz anders aus.

Wer kennt schon deren Sicht auf die Geschichte und die internen Debatten? Wer in der breiteren Öffentlichkeit kennt herausragende Persönlichkeiten wie die Frauenaktivistin Leila Ajesch oder den Nationaldichter Mahmud Darwisch?

Diese Lücke füllt Muriel Asseburg jetzt mit ihrem Buch „Palästina und die Palästinenser. Sie gibt nicht nur einigen Persönlichkeiten, sondern einer ganzen Gesellschaft ein Gesicht. In unaufgeregtem, sachlichem Ton schreitet die Nahostexpertin, die als Senior Fellow im Bereich Nahost und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik in der Regel eher die deutsche Politik berät, durch dieses ideologisch verminte Gebiet.

[Muriel Asseburg: Palästina und die Palästinenser. Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart. Verlag C.H. Beck, München 2021. 365 S., 16,95 €.]

Kritisch gegenüber der palästinensischen Nationalbewegung oder dem langjährigen Präsidenten Jassir Arafat, scheut sich Asseburg aber auch nicht, zu zeigen, dass die israelische Besatzung spätestens seit Premier Netanjahu auf Dauer angelegt ist.

Nakba ist mehr als ein Kampfbegriff

Die Wissenschaftlerin Asseburg, eine der fundiertesten Expertinnen des Nahostkonflikts, macht gleich zu Beginn klar: Für Polemik und Ideologie ist hier kein Platz: So nutzt sie den Begriff der Nakba, den hierzulande viele vorschnell als Kampfbegriff einordnen, zur Bezeichnung der Staatsgründung Israels 1948 – weil diese in der arabischen Geschichtsschreibung so genannt wird, da hierdurch Hunderttausende Palästinenser ihre Heimat verloren und dies als „Katastrophe“ empfunden wurde.

Damit wird die arabisch-palästinensische Perspektive ernst genommen – zugleich tritt Asseburg damit der Tatsache entgegen, die sie anfangs beklagt, dass nämlich Palästina und Palästinenser oft klischeehaft als Terroristen oder reine Opfer wahrgenommen werden und welche starke Rolle israelische Deutungen dabei spielen. Aufbauend auf Gudrun Krämers klassischer Einführung in die Geschichte der Palästinenser vom Osmanischen Reich bis zur Nakba aus dem Jahr 2006, schreibt Asseburg nach einem kurzen Rückblick auf die britische Mandatszeit die Geschichte ab der Staatsgründung Israels bis zur Gegenwart fort.

Die reine Aufzählung von Bevölkerungszahlen um 1882 widerlegen das spätere israelische Narrativ von Palästina als „Land ohne Volk“. Ein Narrativ, das sich fortsetzt in der heutigen Ungleichstellung der palästinensischen Bewohner Ost-Jerusalems, die ihre Häuser und das Aufenthaltsrecht in ihrer Heimatstadt verlieren, wenn sie etwa zum Studium ins Ausland gehen und nicht ununterbrochen vor Ort leben.

Das Eigentum von palästinensischen „Absentees“ nach ihrer Flucht wurde ohnehin meist vom israelischen Staat konfisziert. Haus um Haus, Quadratmeter um Quadratmeter wird um Boden gekämpft, schafft Israel Tatsachen. Zum Verständnis dieses Konfliktes sind solche Fakten nötig.

Andauernde Enteignung und Vertreibung

Nur dann wird erkennbar, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen andauernder Enteignung und Vertreibung von Palästinensern und Angriffen auf Israel – wie zuletzt im Mai, als die angedrohte Zwangsräumung von Palästinensern im Viertel Scheich Jarah zu kriegerischen Handlungen führte.

Die Evolution des palästinensischen Nationalgefühls liest sich spannender als die Skizze der politischen Vertretungen in Form von Fatah, PLO oder Hamas – einfach weil diese bekannter sind. Beim Durchlauf durch die diversen Friedensverhandlungen kommt man selbst in dieser kurzen Rückschau mit den verschiedenen Tracks fast durcheinander. Auch die Entwicklung der palästinensischen Gesellschaft und der neopatrimoniale Zugriff von Arafat und seiner Organisation, der die Entwicklung einer rechtsbasierten liberalen Demokratie verhinderte, werden kritisch dargestellt. Dazu gibt es Landkarten, ohne die man die Auswirkungen der israelischen Siedlungspolitik auf die Wut der Palästinenser nicht verstehen kann.

Besonders politisch wird es bei der Einschätzung der heutigen Situation der Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten vor dem Hintergrund der kontroversen Apartheids-Analogie, die Kritiker Israels aus nichteuropäischen Ländern ziehen.

Die Autorin zeigt, dass sich de facto längst eine „komplexe Einstaatenrealität“ herausgebildet hat, da Israels Regierung immer wieder deutlich macht, dass es die Besatzung kaum beenden werde. Eine Zweistaatenlösung hält Asseburg zudem für unwahrscheinlich, da die Positionen für den Endstatus heute weiter auseinander liegen würden als in der Verhandlungsrunde in Annapolis 2008.

Diskriminierung im Vordergrund

Daher sei ein Dauerzustand absehbar, bei dem die Diskriminierung in den Vordergrund trete – sowohl der israelischen Staatsbürger palästinensischer Herkunftwie der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags bewertete im Juni 2017 die bisherigen israelischen Maßnahmen in den besetzten Gebieten als „Verdrängungshandlungen“, hätten diese doch den Zweck, ein „unwirtliches, abweisendes, entwicklungsfeindliches Umfeld“ zu schaffen.

Trotz aller Unterschiede sieht Asseburg durchaus Schnittmengen zwischen der völkerrechtlichen Definition von Apartheid und der Situation in Israel und den besetzten Gebieten.

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Insbesondere die eingeschränkten Rechte der palästinensischen Bevölkerung und die systematische Bevorzugung der jüdischen Bevölkerung verwiesen auf die im Statut von Rom festgelegte Definition von Apartheid als einem „institutionalisierten Regime systematischer Unterdrückung und Dominanz durch eine rassische Gruppe über eine andere“ – auch wenn das System der Differenzierung in Israel und den besetzten Gebieten nicht auf „Rasse“, sondern in erster Linie auf ethnisch-religiös definierter Volkszugehörigkeit basiere.

Unter Palästinensern, so Muriel Asseburg, steige angesichts dieser Einstaatenrealität die Zustimmung zu anderen Modellen als dem eigenen Nationalstaat: Ihr Kampf verschiebe sich von einem Kampf gegen die Besatzung hin zu einem Kampf für mehr Gleichheit.

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