Israel/Palästinenser: Schlüssel zum Verständnis
Vor dem Unabhängigkeitstag Israels: Die Berlin-Biennale erinnert an das palästinensische Trauma. Doch was steckt hinter der Symbolik?
Der Schlüssel ist ein uraltes Symbol, er kann die Tür zum Himmelreich öffnen, zum Herzen eines geliebten Menschen oder zum eigenen Haus. Und ein Schlüssel kann verschließen und ausschließen. Es kommt auf die Perspektive an. Auch der neun Meter lange Metallschlüssel, der im Rahmen der Biennale derzeit in den Kunstwerken in Berlin ausgestellt wird, sendet unterschiedliche Botschaften. Eine Tonne Metall, die im Kontext des Nahostkonfliktes hoch politisch ist.
Denn für die Palästinenser im Flüchtlingslager Aida bei Bethlehem, die den Schlüssel gefertigt haben, erinnert er an die verlorene Heimat, die Flucht und Vertreibung im Zuge der Staatsgründung Israels. Die meisten palästinensischen Flüchtlingsfamilien besitzen noch die Schlüssel ihrer alten Häuser, die im Gebiet des heutigen Israel standen; sie werden gehütet wie ein Schatz, die Erinnerungen und Emotionen werden wachgehalten. Aus israelischer Perspektive hat diese Verehrung des Schlüssels der Rückkehr etwas Bedrohliches, denn sie bedeutet, dass man sich nicht mit der Geschichte abgefunden hat, sich seinen Besitz vielleicht zurückholen möchte und damit die Existenz Israels als jüdischen Staat gefährdet.
Auf kollektiver, abstrakter Ebene steht der Schlüssel für das palästinensische Geschichtsnarrativ, das dem israelisch-jüdischen Gründungsmythos entgegensteht. Dies wird am deutlichsten am 15. Mai, an dem Israel 1948 seine Unabhängigkeit feiert. Für die Palästinenser ist dies der Naqba-Tag, an dem sie betrauern, dass etwa 750 000 Menschen zu Flüchtlingen wurden. Die Zahl ist ein Fakt. Umstritten ist dagegen, wie es dazu kam, wer schuld daran ist und was sich daraus ableitet. Daher sind die unterschiedlichen Versionen der Ereignisse von 1947 bis 1949 von entscheidender Bedeutung für die aktuelle Politik. Sie sind nicht nur die Wurzel des Konfliktes, sondern sie bestimmen bis heute, wie man den anderen wahrnimmt.
Organisationen der Zivilgesellschaft haben dies seit langem erkannt. So hat das Israel-Palestine-Project nach fast einem Jahrzehnt ein gemeinsames Geschichtsbuch fertiggestellt, indem beide Seiten zusammengeführt werden. Damit ist ein „mächtiges Instrument der Transformation“ geschaffen, hoffen die Initiatoren. Der Mitbegründer der israelischen Organisation „Rabbiner für Menschenrechte“, Rabbi Arik Ascherman, unterstützt solche Projekte: „Es ist wichtig, dass wir anerkennen, dass wir unterschiedliche Geschichtsnarrative haben, ich fühle mich dadurch nicht bedroht.“ Ansonsten werde es niemals Vertrauen geben, meint Ascherman, dessen Organisation für soziale Gerechtigkeit in Israel und die Rechte der Palästinenser in den besetzten Gebieten kämpft. „Denn sonst unterstellen wir automatisch der anderen Seite, dass sie lügt oder Hintergedanken hat, wenn sie uns mit einer Interpretation kommt, die für uns offensichtlich falsch ist.“
Die Politik hat das bisher versäumt. Doch sie stellt sich die Frage, warum die Palästinenser 19 Jahre nach dem Osloer Friedensabkommen noch immer keinen eigenen Staat haben und eine Aussöhnung in weiter Ferne bleibt. Dabei wird neuerdings auch laut darüber nachgedacht, ob den historischen Narrativen genug Aufmerksamkeit gespendet wurde. „Der diplomatische Prozess kann nicht länger die fundamentalen Ereignisse der früheren Zeit ignorieren“, also die Ereignisse um 1948, befindet der einflussreiche Thinktank „Carnegie International“ in seinen neuesten Vorschlägen. Denn die israelische Forderung nach Anerkennung eines „jüdischen Staates“ ebenso wie die Weigerung der palästinensischen Seite, das Recht auf Rückkehr fallen zu lassen, seien zwei der zentralen Streitpunkte. Und sie sind nur zu verstehen, wenn man das Trauma der einen, die Shoah, und das Trauma der anderen, die Naqba, anerkennt und deren Auswirkungen benennt – ohne sie gegeneinander aufzurechnen. Allerdings weiß die Diplomatie genau, warum sie sich auf dieses Terrain nicht begeben wollte: Weil die unterschiedlichen Perspektiven nur schwer miteinander zu versöhnen sind.
Die ursprüngliche israelische geht so: Die Araber haben den UN-Teilungsplan abgelehnt, woraufhin eine Übermacht arabischer Armeen eine kleine israelische Armee angriff. Viele Palästinenser flohen in Nachbarländer. Anschließend konnte Israel die Palästinenser nicht zurückkehren lassen, weil es die Juden, die infolge des Krieges aus arabischen Ländern flüchten mussten, aufnahm. Ab den 80er Jahren haben dann zwar die postzionistischen israelischen Historiker aufgrund neu zugänglicher Dokumente dargelegt, dass die Palästinenser zum Teil gewaltsam von israelischen Milizen vertrieben wurden, wobei auch Massaker angerichtet wurden. Sie stellen auch den Mythos von David und Goliath infrage. Laut Avi Shlaim und den Anhängern seiner Schule war Israel schon damals zahlenmäßig und waffentechnisch den Arabern überlegen. Damit konnte die palästinensische Sichtweise eigentlich nicht mehr als reine Propaganda abgetan werden. Aber in der öffentlichen Debatte und im Bewusstsein der israelischen Gesellschaft haben diese historischen Forschungen bisher kaum Spuren hinterlassen. Verständnis für die palästinensische Forderung, Israel müsse anerkennen, dass den Palästinensern Unrecht geschah, gibt es daher kaum.
Oder doch? 2011 verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das Organisationen in Israel die finanzielle Unterstützung entzieht, wenn sie Veranstaltungen zum Gedenken an die Naqba organisieren. Das Gesetz zielt auf die eine Million arabischer Israelis ab, in deren kollektivem Gedächtnis die Naqba wie bei den Palästinensern ein Schlüsselereignis ist. „Zumindest leugnet niemand die Naqba“, meint der israelische Journalist und politische Aktivist Oudeh Basharat, sondern man untersage, an sie zu erinnern. „Das palästinensische Narrativ hat gewonnen“, deklamiert er ironisch.
In Deutschland und Europa sind diese historischen Ereignisse wenig präsent. Selbst das Kapitel des britischen Mandats in Palästina ist unterbelichtet. Die umstrittene TV-Serie „Gelobtes Land“ des britischen Regisseurs Peter Kosminsky, die kürzlich in Arte lief, hat einem größeren Publikum in Deutschland gnadenlos den Terror jüdischer Untergrundorganisationen gegen Briten und Palästinenser ins Gedächtnis gerückt.
Eigentlich hätte die Serie in Deutschland eine hitzige Debatte auslösen müssen. Aber wahrscheinlich schaut hier niemand Arte. Wenn das Projekt „Schlüssel der Rückkehr“ in den Kunstwerken in Berlin das Trauma der Palästinenser beleuchten will, ist das gut. Würde der Schlüssel in Tel Aviv ausgestellt, wäre es besser.