Irgendwann wieder Händeschütteln?: So könnte das Zusammenleben nach der Pandemie aussehen
In der Coronakrise verschieben sich die sozialen Normen und Werte, sagen Experten. Welche Folgen hat das für den künftigen Umgang miteinander?
„Die Corona-Pandemie ist kulturhistorisch beispiellos“, sagt Cornelius Borck. Der Wissenschaftler muss es wissen. Er ist Direktor des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung an der Uni Lübeck. „Dass alle ihr Verhalten so plötzlich und so umfassend ändern müssen, das hat es noch nie gegeben“, sagt er.
Was aber macht das mit einer Gesellschaft, wenn sich der zwischenmenschliche Kontakt von einem Tag auf den anderen so radikal verändert? Welche Folgen hat das für die Art, wie wir in Zukunft miteinander umgehen, reden und leben werden?
„Das Ritual des Händeschüttelns oder die Praxis der Umarmung wurden von Corona eindeutig gebrochen“, sagt Borck. „Als normale Begrüßungsgeste dürfte beides nicht mehr zurückkehren.“ Nur noch bei speziellen Anlässen, bei einem Vertragsabschluss etwa, werde man sich die Hände schütteln.
Sich freudig um den Hals fallen – das könnte nur noch engen Freunden und Verwandten vorbehalten sein. Von der Geburtstagstorte essen, auf der jemand gerade 30 Kerzen ausgeblasen hat, das werde es künftig kaum noch geben, meint Borck.
Moralische Pionierarbeit
Hansjörg Dilger, Professor an der Freien Uni Berlin mit dem Spezialgebiet Medizinethnologie, glaubt hingegen an die Rückkehr des Händedrucks: „So wie wir gelernt haben, mit dem Virus zu leben, so werden wir uns nach der Krise wieder an den Alltag herantasten müssen.“
Dazu brauche es neue Prozesse des Aushandelns gesellschaftlicher Normen. „Moralische Pionierarbeit“ nennen das die Ethnologen. Wie zu Beginn der Krise werde man auch nach Corona die Grenzen neu festlegen müssen, was als akzeptables Verhalten gilt und was nicht. Party machen ohne Impfung? Mit Husten die Oma im Altersheim besuchen? Viel Stoff für Streit.
Neues Verantwortungsgefühl
Die Coronakrise, sagen die Experten, verschiebe die gesellschaftlichen Werte – mit weitreichenden Folgen. So verändere sich die Vorstellung von Verantwortung, sagt der Medizinhistoriker Michael Knipper von der Uni Gießen.
Bislang habe man Gesundheit als Privatsache betrachtet. Nicht rauchen, wenig Alkohol und viele Vitamine – wer sich daran halte, mache alles richtig, hieß es früher. Knipper sagt dagegen: „Das eigene Verhalten beeinflusst die Gesundheit der anderen. Diese Grundidee kann durchaus zu einem neuen, gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstsein führen.“ Das könne auch der Klima-Diskussion neuen Schwung geben – und bestimmen, wie die Gesellschaft mit der nächsten Krise umgehe.
[Mehr zur Pandemie: Falsche Corona-Gewissheiten - was wir über pandemietreibende Schulen, sichere Busse und das unsichere Zuhause wissen (T+)]
Der Medizin-Ethiker Borck sieht in der neuen Hygiene-Moral aber auch eine Gefahr. Die könne zu „einer Art aseptischen Lebensweise führen“, warnt er. „Was nicht hygienisch ist, wird als unmoralisch angesehen.“
Umso wichtiger sei es, nach der Krise „neue Spielregeln für das soziale Leben“ zu finden. „Der Testfall wird sein, ob wir Oktoberfest oder die Berliner Clubszene wieder zulassen wollen – oder ob solche Veranstaltung langfristig in Verruf geraten.“
[Wenn Sie die wichtigsten News aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Borck treibt eine weitere Sorge um: eine mögliche Zunahme der Einsamkeit. In der Pandemie hätten viele die Vorteile der Online-Kommunikation, Videogespräche und Whats-App-Chats, zu schätzen gelernt. „Das wird auch nach der Krise bleiben“, sagt der Forscher. „Die Schattenseite ist, dass wir immer weniger Alltag miteinander teilen. Der Geburtstagsbesuch bei der Oma wird vielleicht auch nach Corona vermehrt per Video stattfinden. Die Einsamkeit könnte zunehmen.“
Keine theologischen Antworten
Unter der Verschiebung der Werte und Normen könnte auch eine historisch bedeutende Institution zu leiden haben: die Kirche. Noch nie habe die Gesellschaft sich so intensiv und lange mit wissenschaftlichen Erkenntnissen befasst wie in Corona-Zeiten, sagt Borck. „Wissenschaftliche Erklärungen bestimmen unseren Alltag wie nie zu vor. Eine Langzeitfolge könnte die weitere Erosion der Religiosität sein.“
Die Menschen vertrauen auf das medizinische Expertenwissen, auch Laien reden heute wie selbstverständlich über R-Werte und Aerosole. Die großen Kirchen hingegen haben nach Ansicht von Borck „bislang keine Sprache gefunden, um die Krise theologisch zu erklären“.