Tage der Entscheidung: So geht es im Brexit-Krimi jetzt weiter
Brüssel und London haben sich nach langem Ringen auf einen neuen Brexit-Deal geeinigt. Die noch härtere Auseinandersetzung steht Johnson aber noch bevor.
In langwierigen Verhandlungen haben sich Großbritannien und die EU am Donnerstag auf eine Neufassung des EU-Austrittsvertrages geeinigt. Der britische Premierminister Boris Johnson hofft nun darauf, den Vertrag am kommenden Samstag durchs Unterhaus zu bringen. Doch ob das gelingt, ist keineswegs sicher. Denn Johnsons Vorgängerin Theresa May ist schon dreimal im Parlament gescheitert. Hier die wichtigsten Antworten darauf, wie es nun weitergeht:
Worauf haben sich die Unterhändler aus London und der EU geeinigt?
Der neue EU-Austrittsvertrag ist zu rund 90 Prozent identisch mit dem alten Scheidungs-Deal, den seinerzeit die frühere Regierungschefin Theresa May ausgehandelt hatte. Der entscheidende Unterschied besteht in der Nordirland-Regelung: Johnson hat sich mit seiner Forderung durchgesetzt, den „Backstop“ zu streichen.
Der „Backstop“ sah vor, dass das Vereinigte Königreich so lange in der EU-Zollunion bleibt, bis eine endgültige Lösung für Nordirland im Zuge einer Handelsvereinbarung zwischen der EU und Großbritannien gefunden wird. Mit dieser Klausel sollte sichergestellt werden, dass keine „harte Grenze“ zwischen der britischen Provinz Nordirland und der Republik Irland entsteht. In dieser Region herrschte drei Jahrzehnte lang ein Bürgerkrieg, bis 1998 das Karfreitagsabkommen den Frieden brachte.
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Eine „harte Grenze“ zwischen Nordirland und der Republik Irland wird mit der Neuregelung in einem komplizierten Arrangement vermieden. Demnach wird die künftige Zollgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU in der Irischen See verlaufen.
In der Praxis bedeutet dies beispielsweise, dass Güter, die aus Richtung Großbritannien auf dem Seeweg im nordirischen Hafen Belfast ankommen und für die Republik Irland bestimmt sind, beim Eintreffen in Nordirland eine Zollkontrolle durchlaufen müssen. Mit dieser Regelung soll künftig der EU-Binnenmarkt geschützt werden, wenn Güter in Nordirland anlanden.
Für Nordirland sollen auch nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU bei Agrar- und Industriegütern die Produktstandards des europäischen Binnenmarktes gelten. Anders als in der bisherigen Vereinbarung soll Nordirland künftig nicht mehr zur EU-Zollunion gehören, sondern zum britischen Zollgebiet. Damit gibt die EU die Kontrolle der künftigen EU-Außengrenze in Nordirland im Rahmen einer Zollpartnerschaft in britische Hände.
Johnson hat den „Backstop“ mehrfach als „undemokratisch“ bezeichnet. Der Premierminister hoffte mit dieser Rhetorik auf die Unterstützung der nordirischen Unionisten-Partei DUP, die eine Aufweichung des Verbundes zwischen Nordirland und dem übrigen Gebiet des Vereinigten Königreichs befürchtet. Der „Backstop“ wird nun durch eine Regelung ersetzt, welche dem nordirischen Parlament ein Mitspracherecht zugesteht.
Voraussichtlich im Jahr 2024 muss das nordirische Parlament erstmals entscheiden, ob der Verbleib Nordirlands im EU-Binnenmarkt beibehalten wird oder nicht. Damit die Regelung verlängert wird, wird alle vier Jahre eine Mehrheitsentscheidung durch das Parlament benötigt. Sollte die Zustimmung des Parlaments eines Tages ausbleiben, tritt eine zweijährige „Abkühlungsphase“ in Kraft. In dieser Zeit müssten alle Seiten nach einer Alternativlösung suchen.
Wie reagieren Labour und andere oppositionelle Parteien?
Von einem „Ausverkauf“ sprach Labour-Chef Jeremy Corbyn und nannte das neue Paket „schlechter als der Deal von Theresa May“. Der eigentlich eingefleischte Skeptiker der EU-Institutionen hat sich mittlerweile der Mehrheit seiner Partei angeschlossen: Labour will nun mit einer zweiten Volksabstimmung den Brexit ganz verhindern. Ähnlich argumentieren die schottischen und walisischen Nationalisten, Grüne und Liberale.
Bei vielen Labour-Aktivisten besteht aber tiefes Misstrauen gegenüber der Parteiführung um Corbyn. Anders als Johnson, der wegen Abweichungen von seiner Brexit-Linie 21 Rebellen aus Partei und Fraktion warf, droht der Labour-Chef möglichen Abweichlern keine ähnlich tiefgreifenden Konsequenzen an. Das könnte jene rund zwei Dutzend Mandatsträger, deren Wahlkreise 2016 mehrheitlich für den Brexit stimmten, dazu verlocken, dem Johnson-Deal ihr Plazet zu geben.
Umgetrieben werden sie zusätzlich von panischer Angst vor einer Neuwahl. In einer jüngsten Umfrage der Firma YouGov lag Corbyn bei der Frage nach dem besseren Regierungschef in allen Altersgruppen und jeder Region des Landes deutlich hinter seinem Rivalen Johnson.
Gewiss gegen den Deal stimmen wird Labour-Mann Kevin Brennan. Der Mann aus Cardiff musste wegen der samstäglichen Sondersitzung seine für Freitagabend geplante 60. Geburtstagsparty absagen.
Ist ein ungeregelter Brexit endgültig vom Tisch?
Vorerst ja. Im September hatte das Unterhaus für ein Gesetz gestimmt, das einen No-Deal-Brexit ausschließen soll. Dieses Gesetz hätte für den Fall gegriffen, dass Johnson vom Brüsseler Gipfel kein Ergebnis mitgebracht hätte. In diesem Fall wäre der Premier verpflichtet gewesen, eine Verlängerung zu beantragen. Diese Frist läuft am 31. Oktober aus.
Das von Labour initiierte Gesetz wird aber auch dann wirksam, falls nach einer neuerlichen Ablehnung des nun vorliegenden Austrittsvertrages durch das Unterhaus ein No-Deal-Brexit drohen würde.
Hat Boris Johnson eine Mehrheit für den neuen Deal im britischen Unterhaus?
Nach der Einigung mit Brüssel konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Londoner Politik nun auf die notwendige Zustimmung des Parlaments. Das Unterhaus stimmte am Donnerstagnachmittag mit knapper Mehrheit der ersten Samstagssitzung seit 37 Jahren zu. Um seinen „großartigen neuen Deal“ verabschieden zu können, muss Premier Boris Johnson viele Skeptiker umstimmen. Sowohl die Oppositionsparteien wie auch die nordirische Unionistenpartei DUP kündigten ihre Ablehnung an.
Weil das Votum der DUP auch die Stimmung unter Johnsons konservativen Brexit-Hardlinern negativ beeinflussen dürfte, reagierten die Finanzmärkte negativ. War das Pfund gegenüber Dollar und Euro zunächst um mehr als ein Prozent gestiegen, sackte es nach der Mitteilung aus Belfast um 0,2 Prozent ab. Im Vergleich zum Stand vor der Volksabstimmung vom Juni 2016 liegt die britische Währung um etwa 13 Prozent niedriger. Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften beklagen einen Investitionsrückgang. Das will Premier Johnson durch sein neues Verhandlungspaket beenden.
Beim Gipfel in Brüssel werde der 55-Jährige um keine weitere Verlängerung der Austrittsperiode nachsuchen und alle Angebote weiterer Bedenkzeit verweigern, hieß es in der Downing Street. Damit will Johnson Druck auf die Parlamentarier ausüben. „Entweder dieser Deal oder gar keiner“, lautet das Regierungsmotto. Dem als „No Deal“ verharmlosten Chaos-Brexit zum Monatsende hatte das Unterhaus Riegel vorzuschieben versucht, indem es Johnson eine Entscheidung bis zu diesem Samstag aufzwang. Diesen Ball hat der Konservative nun zurückgespielt.
Die Arithmetik im Londoner Unterhaus spricht nicht unbedingt dafür, dass sein Plan aufgeht. Die Unionisten begründeten ihre Ablehnung mit einer „Gefahr für die Integrität der Union“ – ein Argument, das auch auf dem harten rechten Flügel von Johnsons offiziell „konservativ und unionistisch“ genannten Partei widerhallen dürfte. Die Britannien-treuen Nordiren ärgern sich darüber, dass ihnen kein Vetorecht über die neue Vereinbarung zugestanden wurde.
Stattdessen kann der Belfaster Landtag mit einfacher Mehrheit eine Fortschreibung des zunächst geltenden Sonderstatus beschließen. Dadurch, so fürchtet DUP-Chefin Arlene Foster, entstehe nach und nach eine Abkapselung ihrer Provinz von Großbritannien, insbesondere durch die neuen Zollvorschriften. Ihnen zufolge bleibt der Nordostteil der irischen Insel zwar de jure im Zollgebiet des Vereinigten Königreiches, befindet sich aber de facto in einer Zollgemeinschaft mit der Republik im Süden. Dies soll den gefährdeten Frieden auf der grünen Insel sichern.
Wie wahrscheinlich ist eine Verlängerung der Brexit-Frist?
Eine Verlängerung der Frist könnte nötig werden, falls sich das Unterhaus in London querstellt.
Wie das in der Praxis abläuft, hatte sich bereits im vergangenen Frühjahr gezeigt. Ende März verlor May damals die dritte Abstimmung im Unterhaus über ihre Version des Vertrages. Bereits wenige Tage zuvor hatte sie indes eine kurzfristige Verlängerung bis zum 12. April erwirkt. Diese Frist wurde anschließend bis zum 31. Oktober ausgedehnt.