Neues Brexit-Abkommen: Guter Deal, trübe Aussichten
Dem neuen Austrittsvertrag droht erneut eine Ablehnung im Unterhaus. An der Brexit-Blockade in der britischen Politik hat sich nichts geändert. Ein Kommentar.
Einen Vorwurf kann man der Europäischen Union jedenfalls nicht machen: Dass sie nicht alles versucht hätte, um Boris Johnson auf der Suche nach einer Lösung beim Brexit entgegenzukommen. Der britische Premierminister, der in der vergangenen Woche noch mit einem Abbruch der Gespräche über den Austritt Großbritanniens drohte, hat urplötzlich in den Verhandlungsmodus umgeschaltet.
Die EU belohnte den Willen Johnsons zur Diplomatie, indem sie das Austrittsabkommen noch einmal entscheidend geändert hat. Und dennoch könnte der britische Premierminister an jener Hürde scheitern, die schon zuvor seiner Vorgängerin Theresa May zum Verhängnis geworden war – dem Unterhaus in London.
Es spricht Bände über die seit drei Jahren andauernde Lähmung in der britischen Innenpolitik, dass die neue Version des Austrittsvertrags in London unmittelbar nach der Brüsseler Einigung schon wieder zerredet wurde. Kaum hatte der EU-Chefverhandler Michel Barnier die Details des neuen Scheidungsabkommens bekannt gegeben, bezeichnete Oppositionschef Jeremy Corbyn die Neuregelung als arbeitnehmer- und umweltfeindlich.
Die Liberaldemokraten, die ebenfalls auf den Oppositionsbänken sitzen, wollen ein zweites Referendum. Und die nordirischen Unionisten, die zum Regierungslager gehören, sind sowieso gegen die Vereinbarung. Alles wie gehabt also in Westminister, dem Regierungsbezirk in London.
Die neue Vereinbarung ist kompliziert, aber dennoch tragfähig
Wenn man sich den neuen Deal etwas genauer anschaut, dann fällt die Ablehnung schon etwas schwerer. Das jetzt auf dem Tisch liegende Papier, mit dem die Trennung zwischen Großbritannien und der EU besiegelt werden soll, ist zwar komplizierter als die Vereinbarung, die Theresa May vor einem knappen Jahr mit der Europäischen Union schloss. Aber gleichzeitig ist die überarbeitete Nordirland-Regelung so gestaltet, dass sowohl die EU als auch Großbritannien eigentlich gut damit leben könnten.
In allen kritischen Fragen zeigt sich nämlich, dass beide Seiten ihren Prinzipien treu geblieben sind. Großbritannien kann die ungeliebte EU-Zollunion verlassen und – wenn es denn Partner dafür gibt – die von Johnson immer wieder beschworenen Freihandelsabkommen in aller Welt abschließen.
Die Nordiren müssen zwar Zollkontrollen an der Irischen See hinnehmen, aber der Frieden in der einstigen Unruheprovinz bleibt trotzdem gewahrt. Die Regionalparlament in Belfast bekommt ein permanentes Mitspracherecht über die teilweise Verankerung Nordirlands in der EU, aber die Unionisten erhalten dabei kein Vetorecht. Das sind lauter weise Vorkehrungen, die zumindest im Europaparlament und den Hauptstädten der verbleibenden 27 EU-Staaten auf Wohlwollen stoßen sollten.
Johnson sucht den Showdown mit dem Unterhaus
Ganz anders sieht es in Großbritannien aus. Johnson will es nun auf einen Showdown mit dem Unterhaus ankommen lassen und die Abgeordneten zur Zustimmung über das neue Vertragswerk peitschen. Dabei setzt der Regierungschef darauf, dass etliche Parlamentarier des endlosen Brexit-Gezerres müde geworden sind. Sie könnten dem Deal tatsächlich zustimmen, bevor das Drama um den britischen EU-Austritt in die inzwischen dritte Verlängerung geht.
Aber von ähnlichen Überlegungen ließ sich auch schon Theresa May leiten, als sie ihre Version des Austrittsvertrages wiederholt im Unterhaus vorlegte. Sie scheiterte bekanntlich drei Mal. Gegenwärtig ist nicht absehbar, dass es ihrem Nachfolger Johnson besser ergehen sollte – zumal er inzwischen auch noch seine Parlamentsmehrheit verloren hat.
Angesichts der Blockade in London ist die EU nicht wirklich aus dem Schneider. Falls die Parlamentarier Johnson auflaufen lassen sollten, müsste sich die Gemeinschaft die Frage stellen, wie oft denn noch über den Austritt verhandelt werden soll. Niemand will ein No-Deal-Szenario. Aber will jemand Brexit-Verhandlungen bis zum St. Nimmerleinstag?